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 1. Socke persönlich  

Grüezi, Grüezi 

Schön, dass Sie mir Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Ich weiss das zu schätzen. Immerhin befinden sich viele von Ihnen gerade im Auto oder bei der Arbeit und riskieren wegen einer grauen Socke Job oder Leben.

Ich scheine ja tatsächlich eine gewisse Berühmtheit erlangt zu haben, denn plötzlich interessieren sich wildfremde Personen für mein Privatleben.

Gestern schrieb mir zum Beispiel eine Lehrerin, dass mein Blog bei ihren Schülern gut ankomme und die Klasse mich gerne zu meinem Leben ausserhalb des Internets interviewen würde. Und weiter hiess es wörtlich: Ich finde es zwar ziemlich strange, dass eine selbstgestrickte Socke cooler rüberkommen soll als der übliche Schrott, den die Kids sich so am Handy reinziehen, aber why not? Ich bin open minded für die Ideen meiner Kids und hoffe mal, dass das mit dem Interview ok ist für Sie.

Und ich hoffe mal, dass die Kinder trotz ihrer Lehrerin irgendwie Deutsch lernen werden.

Ab und zu kriege ich auch Mails mit Absendern wie Terminator24@hotmail.com. Da steht dann etwa: Hey, du scharfe Socke. Ich finde dich geil! Ich bin auch Single und wir müssen uns unbedingt bald mal treffen!

Au ja, unbedingt! … Denen schicke ich jeweils eine höfliche Absage mit meiner extra für solche Fälle kreierten Mailadresse Pimmelschere@gmx.ch.

Vor einer Woche erhielt ich dann aber einen wirklich unangenehmen Brief mit folgendem Inhalt:

Sehr geehrte/r Herr/Frau/Anderes Socke.

Durch einen anscheinend chronisch unterbeschäftigten Angestellten im Bereich Kunst und Kultur (im Gegensatz zu uns chronisch überlasteten Angestellten der Steuerverwaltung ganz besonders nach den vielen kürzlich erfolgten Selbstanzeigen, von deren Möglichkeit Sie anscheinend nicht Gebrauch machen wollten!), erhielten wir mittels Weiterleitung Ihres Internet-Blogs Kenntnis von Ihrer uns bis anhin unbekannten Existenz.

Können Sie noch folgen? Beamtendeutsch! Und weiter geht's:

Wir ersuchen Sie dringend, uns Ihre lückenlosen Einkommens- und Vermögensbelege der letzten zehn Jahre nachzureichen. Zudem benötigen wir detaillierte Angaben zu Ihrer Person wie Adresse, familiäre Verhältnisse etc.

Na ja. Wir werden sehen.

Auffallend ist, dass diese ganzen Leute wissen wollen, wie ich privat lebe.

Warum fragen sie nicht ihre eigenen Socken, wie es sich so lebt in einer dunklen Schublade, zusammengepfercht wie die Sardinen? Oder wie es sich anfühlt, den ganzen Tag mit Schweissfüssen getreten zu werden und alle zwei Wochen in parfümiertem Schaum ertränkt, geschleudert und dann aufgehängt zu werden? Oder wie unsereins damit umgeht – vor allem die schwarzen Männersocken – wenn wir nach dem Trocknen womöglich nicht mit dem angestammten Partner, sondern mit einer wildfremden Socke wurstgleich ineinandergestülpt werden?

Aber so etwas wollen die Leute ja nicht hören. Genau wie gestern an der Fleischtheke der Migros, wo die junge Frau neben mir zwei Kalbsplätzli verlangte und dann wissen wollte, ob das Fleisch von glücklichen Kälbern stammte und mit zarter Stimme hinzusetzte: "Wie haben die Kälbchen denn gelebt?" Und der Metzger antwortete: "Kurz."

Nein, so etwas wollen die Leute nicht hören.

Das Pendant zu freilaufenden Kälbern, Hühnern oder Schweinen wären übrigens die Wandersocken. Die Glücklichen werden nämlich beim Gipfelpicknick zum Auslüften ausgezogen und dürfen dann das herrliche Alpenpanorama geniessen.

Aber zurück zu mir: Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin ein einfach gestricktes Gemüt, fühle mich eher links als rechts, aber das ist wie gesagt nur ein Gefühl, da ich ja keine Wandersocke mit eingesticktem L oder R bin.

Ich bin von Natur aus genderneutral, geruchsneutral, alterslos und kinderlos. Meist stiefle ich durch die Gegend, – nein, ich sockle durch die Gegend, schaue und höre mich um und käue hier dann wieder, was mir dabei aufgefallen ist.

Beinahe hätte ich es vergessen: Dank diesem Blog werde ich auch noch reich und berühmt, was nicht schlecht ist für eine unscheinbare graue Single-Socke. 

Damit das aber auch so bleibt, bitte regelmässig hier vorbeischauen! 

Bis dann. Ihre zu ewigem Dank verpflichtete Socke.

 

 

2. Socke am Bahnhof

Grüezi, Grüezi

Diesmal muss ich der politischen Korrektheit wegen zuerst einen Begriff klären. Früher hiessen Bettler ja einfach Bettler. In Komiker-Kreisen nannte man sie auch gerne Numismatiker, das Fremdwort für Leute, die seltene Münzen sammeln. Heute wird jedoch alles umbenannt, was irgendwie abwertend klingen könnte. Finde ich im Prinzip super. Welcher ausgebrannte Manager will schon seine psychiatrisch betreute Erholungszeit in einer Irrenanstalt verbringen, wenn er am gleichen Ort ein Sabbatical am Institut für Mindwellness absolvieren kann. Weniger gut finde ich Bezeichnungen, die von linguistisch minderbegabten Sozialdirektorinnen in die Welt gesetzt wurden. Die Bettler hat man sprachlich kurzerhand in die Zunft der sogenannten Randständigen integriert, was mir ein völlig unpassender Name zu sein scheint. Schliesslich tun Bettler etwas. Sie begeben sich aktiv mitten auf den Bahnhofplatz, appellieren an unser Mitgefühl und zwingen uns zur Kommunikation, falls sie nicht mit gesenktem Kopf auf einer schmuddeligen Decke sitzen. Immerhin hat man von behördlicher Seite darauf verzichtet, sie in Finanziell benachteiligte Mitmenschen umzutaufen. Ich jedenfalls bleibe bei der Bezeichnung Bettler

Und jetzt geht's los: 

Normalerweise ist es eine rundum gute Sache, wenn Bettler mich ansprechen, schliesslich handelt es sich dabei um eine klassische Win-win-Situation. Man trottet mässig gelaunt durch die Stadt, das Wetter ist mies und die Sockenwolle kratzt noch mehr als üblich… Dann wird man unversehens angesprochen und spendet eine kleine Summe. Was danach kommt, ist unbezahlbar. Die beschenkte Person strahlt uns an und sagt je nach Höhe des Betrags: "Merci." Oder "Mega nett von Dir. Schönen Tag noch". Oder "Ich wünsch' Dir ein schönes Leben" Oder: "Du sein gute Mensch – nä - gute Fusskleid. Gesundheit und Gluck fur ganze Familie." Und schon fühlt man sich wieder wunderbar.  

Gestern lief die Situation jedoch ein wenig aus dem Ruder. Ich wartete auf dem Bahnhofplatz auf meinen Bus, als sich ein magerer und ungepflegter Mann undefinierbaren Alters mit seinem ebenfalls mageren und ungepflegten Hund jüngeren Datums vor mir aufbaute. 

"Sorry, du, hast du mir einen Franken für die Notschlafstelle?" 

"Ja, klar", meinte ich freimütig, worauf er sofort nachschob: "Oder vielleicht ein bisschen mehr? Ich brauche nämlich auch was zu Essen." 

Als ich in meinem Strumpf nach Kleingeld kramte, fügte er rasch hinzu: "Und mein Hund müsste schon lange mal zum Tierarzt…". Bevor er eine Kreuzfahrt ins Spiel bringen konnte, gab ich ihm Münzen für knapp fünf Franken. Er zählte das Geld und sah mich an. "Das reicht nirgendshin. Weisst du, ich vertrage nur gute Nahrungsmittel. Der jahrelange Alk und die Drogen haben mir den Magen versaut.  

"Können Sie den Hund denn dorthin mitnehmen?" fragte ich ein wenig verwirrt.

"Wohin?"

"Zur Notschlafstelle."

"Keine Ahnung", murrte er, "Da war ich noch nie." 

"Aber Sie wollten das Geld doch ursprünglich für die Notschlafstelle."

Er trat einen Schritt vor. "Willst du mir jetzt vorschreiben, wofür ich mein Geld brauche?" 

Ich trat einen Schritt zurück. "Also eigentlich ist es ja mein Geld."

"Was?" Er blickte mich drohend an. 

Jetzt wurde ich trotzig: "Bis gerade vorhin war es jedenfalls noch meins."

Falsche Antwort. Ganz falsch. Er schrie: "Das glaub' ich jetzt nicht. Ich bin ja ein friedfertiger Mensch, aber übers Ohr hauen lass' ich mich nicht." Dann wandte er sich ab, zog den Hund hinter sich her und verkündete laut: "Mit unsereins kann man's ja machen: Ein paar lausige Münzen geben, aber Vorschriften machen und dann noch behaupten, mein Geld gehört mir nicht. Anzeigen sollte man diese irre Socke, anzeigen! Er drehte sich nochmals um und schüttelte die Faust in meine Richtung.  

Der Typ ist eindeutig branchenschädigend.

Leider konnte ich dieses traumatische Erlebnis nicht auf sich beruhen lassen. Ich liess meinen Bus sausen und machte mich auf die Suche nach einem netteren Vertreter seiner Zunft. Natürlich war jetzt auf dem ganzen Bahnhofsareal kein einziger Bettler mehr zu sehen.  

Ich muss gestehen, ich hatte schon bessere Tage. 

Immerhin habe ich aus diesem Desaster etwas gelernt. Beim nächsten Mal gebe ich sofort ein Zehnernötli, egal wer mich anspricht. Ich will ja nicht noch angezeigt werden! 

Bis bald, Ihre Socke oder korrekt: Ihre paarmässig benachteiligte Fussbekleidung.

 

 

3. Socke über Extremsportler 

Grüezi, Grüezi 

An einem strahlend schönen Samstag im Februar – Sie sehen schon: die Geschichte spielt an einem Ort über der Nebelgrenze – sass ich mit fünf mir unbekannten, gutgelaunten Männern auf der Terrasse eines Bergrestaurants. Die Sonne war gerade hinter der Bergkette verschwunden und es wehte ein eisiger Wind. Für mich kein Problem – Wolle hält warm. Die aussenrum teflonbeschichteten und innen mit Polarfleece ausgekleideten Männer schienen die klirrende Kälte ebenfalls nicht zu spüren. Sie tranken ihr Winter-Panaché (4 dl Bier / 1 cl Frostschutzmittel) und unterhielten sich angeregt über ihre Lieblingssportarten wie Freeriden, Paragliding, Ultramarathon, Canyoning oder Eisklettern und über ihre damit verbundenen Nahtoderlebnisse. Leider floh die gesamte Gästeschar vor den Schatten in die warme Gaststube, sodass die verbliebene Zuhörerschaft bloss noch aus drei windzerzausten Alpendohlen bestand, die auf dem Terrassengeländer hockten und ab und zu in unsere Richtung äugten. 

Nicht unbedingt das Wunschpublikum für Heldenerzählungen.

 Meine Tischnachbarn sinnierten eine Weile vor sich hin.

 „Na Socke“, wandte sich schliesslich einer an mich, „machst du eigentlich auch Sport?“

 „Bestimmt nicht“, meinte sein Kollege, „sonst wäre er ja eine Sportsocke.“

 Allgemeines Gelächter.

 (Warum gibt es eigentlich in jeder Gruppe zwingend einen Komiker? Ist das kulturbedingt oder gesetzlich vorgeschrieben? Ich muss dem mal nachgehen…)

 „Klar mache ich Sport“, erwiderte ich ein wenig beleidigt. „Ich fahre Velo, wandere und schwimme je nach Jahreszeit und Lust und Laune.“

 „Mit dem Rad zur Arbeit zu fahren ist doch kein Sport“, meinte der Komiker nun mitleidig.

 (Zur Arbeit? Welche Arbeit? Als Socke lebt man vom bedingungslosen Grundeinkommen!)

 „Und beim Wandern überholt dich auch ein übergewichtiges Bergschaf mit Klauenfäule noch mühelos.“

 Allgemeines Gelächter zum Zweiten.

 Jetzt kam er so richtig in Fahrt. „Was hast du noch aufgezählt? Schwimmen? Da gehst du im Winter doch spätestens nach zehn Minuten sang- und klanglos unter, und das Letzte, was du siehst, ist eine hochbetagte Stockente, die munter über dich rüberschwimmt.“

 Und allgemeines Gelächter zum Dritten.

 „Wir meinten richtigen Sport!“, meinte ein besonders wettergegerbter Ironman.

 Ich blickte in die Runde. „Ihr meint also Sport, der so richtig viel kostet und bei dem man auch mal sein Leben riskiert?“

 Allgemeines Nicken.

 „Na ja, das versteht Ihr unter Sport. Es gibt aber auch Sportarten, bei denen man mit extrem wenig Muskelkraft extrem reich und berühmt werden kann, was ja auch wieder eine Art von Extremsport ist. Da wären zum Beispiel Billard, Computergame-Wettkämpfe, Poker, Golf, (und kommen Sie mir jetzt nicht mit Tiger Woods, liebe Leserinnen und Leser – die meisten Golfer sind um die Achtzig!), Schiessen, Darts, Bridge, Schach, und dann noch die weniger einträglichen Sportarten wie Falknerei, Kaninhop, Fliegenfischen oder Agility für Hunde.“

 Meine Extremsportler wirkten nicht überzeugt.

 „Socke, du liest zu viel. Da schnappt man solch wirres Zeugs auf. Du solltest dir lieber mal eine GoPro-Kamera umschnallen und dich dann einen Wasserfall hinunterstürzen. Das ist Adrenalin pur!“

 Ich nickte. „Kann schon sein. Adrenalin könnt Ihr aber auch so haben: Einfach heute Abend die verschwitzten Socken aufs Kopfkissen Eurer Partnerin legen und dann abwarten. Aber bitte ohne GoPro-Kamera.“

 Tja. Auch Socken scheinen diesem Sprücheklopfer-Zwang zu unterliegen. Ich muss dem unbedingt mal nachgehen.

 Dann bis bald.

Ihre Sportsocke.

  

4. Socke zum Wetter

Grüezi, Grüezi.

 Schön, dass Sie wieder mal vorbeischauen. Wie ist das Wetter denn so bei Ihnen? Jetzt folgen meist drei Minuten Blablabla Regen und Blablabla Föhn und schon hat man nett geplaudert, ohne sich aufs Glatteis zu begeben.

 Tatsächlich sind nur noch die Wenigsten von uns bei der Arbeit Wind und Wetter ausgesetzt. Die anderen nehmen dank Tiefgarage, klimatisiertem Auto und Indoor-Sport das Wetter nur noch als hübsche Kulisse vor dem Fenster wahr. Unterhaltungswert hat es jedoch allemal. Beim Blick aus dem Bürofenster tönt es dann erschrocken: "Oh mein Gott! Schaut mal diese dunklen Wolken da draussen! Und wie es windet! Hoffentlich kommt es nicht auch noch regnen!"

 Warum? Ist das Gebäude nicht wasserdicht?

 Auch in den Medien sind die Wettervorhersagen der Renner. Am schlimmsten ist es während der Mittagsnachrichten. Da bricht beim Satz "Und nun zum Wetter…" am Esstisch augenblicklich Panik aus: "Pschschscht! Jetzt seid doch mal still! Ich kann nichts hören!" und in den folgenden zwei Minuten bemüht sich sogar der Familienhamster, möglichst geräuschlos zu kauen.

 Aber wehe, die Prognosen treffen nicht zu und das geplante Grillfest fällt ins Wasser. Dann hagelt es Beschimpfungen und Drohbriefe. Nach so einer Fehleinschätzung fragt sich so mancher Wettermoderator, warum er nicht gleich Schiedsrichter bei der Champions League geworden ist. Dort wird man zwar ebenfalls mit Drohungen eingedeckt, aber man verdient besser. Gegen Fehleinschätzungen helfen Kontaktlinsen, und im Volksmund heisst man Schiri und nicht Wetterfrosch. Nun ja.

 Früher waren die Leute froh, wenn die warme Jahreszeit endlich wieder begann, heute dauert sie von Februar bis November und scheint lebensbedrohliche Gefahren zu bergen. Bald trauen sich nur noch Menschen mit Hang zur Selbstzerstörung wie Raucher und Extremsportler ins Freie.

 Auf den Kantinenterrassen sitzen im Sommer - und nur im Sommer - etwa fünfzehn Leute; wahrscheinlich Raucher. Die restlichen Hundertdreissig haben triftige Gründe, drinnen zu essen. Draussen ist es nämlich wahlweise zu hell, zu dunkel, zu windig, zu warm, zu feucht, zu kühl, zu drückend oder zu gewitterhaft. Und es hat zu viel Sonne, zu viel Schatten, zu viele Wolken, zu viel Föhn, zu viele Blütenpollen oder zu viele Wespen. Und wenn das Wetter einmal genau passt, dann sind die Stühle auf der Terrasse zu unbequem, zu kalt oder zu kippelig und die Tische zu klebrig, zu wackelig, zu rostig, zu reflektierend oder voller Spatzendreck.

 Aber wenn diese Büroluftfanatiker alle paar Jahre eine Freizeit-Jacke kaufen, wählen sie gerne die Marke mit dem Pfotenabdruck und dem Werbeslogan: "Draussen zu Hause".

 Im Frühling bleiben die Fenster wegen Pollenflug oder störendem Vogelgesang geschlossen und im Herbst muss man wegen den lärmenden Laubbläsern drin bleiben.

 Im Winter sind dann erst recht alle überfordert.

 Fällt Ende November über Nacht der erste und manchmal zugleich letzte Schnee, geht am andern Morgen gar nichts mehr. Der gesamte Zugverkehr kommt zum Erliegen und die Busse fahren nur noch vereinzelt auf geraden Strecken. Schliesslich konnte ja niemand ahnen, dass der Wintereinbruch die Schweiz so plötzlich überfällt…

 Am meisten haben aber die Wintersportorte zu leiden. Dort ist das Wetter kaum je, wie es sein sollte. In den letzten Jahren gab es meist zu wenig oder gar keinen Schnee. Dementsprechend waren die künstlich beschneiten Pistenstreifen morgens vereist, nachmittags sulzig und gegen Abend mit Grasbüscheln und Steinen bespickt.

 Diesen Winter revanchierte sich Petrus für das ewige Gejammer mit wahren Bergen von Schnee. Und schickte noch ein paar Winterstürme hinterher, um das Chaos komplett zu machen. Gondeln und Bergbahnen drohten vom Winde verweht zu werden. Die Pisten und Winterwanderwege wurden wegen akuter Lawinengefahr ebenfalls gesperrt und die Unfallchirurgen im Oberland meldeten Kurzarbeit an, weil ihnen die Patienten ausblieben. Nur die Besitzer der Fonduebeizli rieben sich die Hände angesichts der festsitzenden Wintertouristen, die ihren Frust in Fondue und Weisswein ertränkten.

Ja, das liebe Wetter. Wenn mir für meine Beiträge hier mal kein Thema mehr einfällt, werde ich gerne wieder darauf zurückgreifen. Inzwischen gehe ich aber nach draussen – es regnet gerade so schön!

Bis bald. Ihre Socke

 

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Gute neue Zeiten (1) - Alltägliches aus Alberts Sicht

Im Altersheim Sunne-Egge arbeiten sie seit kurzem mit Kostenstellen. Mein Nachbar Franz ist dort seit vierzig Jahren Chefgärtner. Er hatte gehofft, noch vor der Einführung pensioniert zu werden und mit verdrehten Augen ‚Lass diesen Elch an mir vorübergehen‘ geseufzt, aber es hatte alles nichts genützt: Nachdem er endlich die Informatik-Programme für die Zeiterfassung und die Einsatzplanung im Griff hatte, musste er nun auch da noch durch.

Wir sassen bei einem Glas Wein in seiner Küche und er schob mir einen Ausdruck der Info-Mail über den Tisch. Da stand, dass Kostenrechnungsobjekte die Aufgabe hätten, zwecks Transparenz und effizienter Unternehmensführung die in einem Unternehmensteil angefallenen Kosten zu sammeln und sie dann in die Kostenstellenrechnung zu integrieren.

Ich sah ihn ratlos an. „Klingt ziemlich kompliziert.“

„Und ist noch komplizierter, als es klingt“, erwiderte Franz mürrisch. „Wenn der Koch heute zwei Bund Peterli für die Tagessuppe braucht, muss er ein elektronisches Bestellformular ausfüllen und ausdrucken. Damit kommt er zu mir und darf den Peterli erst mitnehmen, wenn ich ihm eine Rechnung dafür ausgestellt habe. Und weil ich anderes zu tun habe, als dauernd ins Büro zu rennen und Rechnungen zu schreiben, verzögert sich das Ganze so lange, bis ich Zeit dafür habe oder der Koch ausrastet. Früher kam er in den Garten, schnitt sich die Kräuter, die er brauchte und verschwand mit einem kurzen Gruss wieder. Ich wette, dass sich bei dem neuen System in ein paar Monaten herausstellt, dass der Anbau von Küchenkräutern kostenstellenmässig zu teuer ist und zudem das Klima zwischen Gärtnerei und Küche vergiftet und schon habe ich zwei Beete weniger im Heimgarten und der Hilfsgärtner muss sein Pensum reduzieren.“

Ich versuchte ihn mit dem Hinweis aufzuheitern, dass er damit wenigstens die Knorr-Kräuterbouillon quersubventioniere, erntete aber nur ein gequältes Lächeln. Ich kann es ihm nicht verdenken. In letzter Zeit redet ihm jeder in seine Arbeit hinein. Vor zwei Jahren musste er den ganzen Garten umgestalten, weil sich eine Pflegerin im Rahmen ihrer Weiterbildung ein Projekt mit dem Titel ‚Der Garten als Lebensquell‘ aus den Fingern gesogen hatte, wie Franz es unverblümt nannte. Ich habe mir das fertige Gartenprojekt bei einem Quartierspaziergang angesehen. Da ragen nun nackte Holzstäbe mit farbig glänzenden Kugeln aus den Blumenbeeten. Recht hübsch, wenn sie bei Sonnenschein nicht so furchtbar blenden würden, dass man um sein Augenlicht fürchten muss. Entlang der Kieswege stehen Tafeln mit konfuzianischen Lebensweisheiten – immerhin auf Deutsch - und im hinteren Teil des Gartens befindet sich das neue ‚Lebenslabyrinth‘ aus hüfthohen Buchsbüschen. Ein Labyrinth! Als hätten die teils dementen Patienten vom Sunne-Egge nicht schon genug Mühe, sich draussen zurechtzufinden.

Mir hat ja der Naturteich am besten gefallen. Leider stolperte eine Bewohnerin am Tag nach der feierlichen Einweihung samt Rollator in den Teich und konnte gerade noch rechtzeitig herausgefischt werden. Seither steht ein massiver Holzzaun um den zierlichen Teich. Wie Franz mir erzählte, erkor ihn bald darauf ein Stockenten-Paar als neuen Nistplatz und produzierte fleissig Nachwuchs, was die Bewohner und den Heimkater gleichermassen entzückte. Als nach ein paar Tagen nur noch vereinzelte Flaumfedern an die Jungen erinnerten, liess CEO Gerstenheimer – der Nachfolger des Ehepaars Fankhauser - das Entenpaar umsiedeln, um die Bewohner nicht zusätzlich zu traumatisieren, wie es in der entsprechenden Info-Mail hiess.

Trotz allem arbeitet Franz nach wie vor gerne im Sunne-Egge. Er hängt an seinem liebevoll gepflegten Garten und an den Bewohnern, von denen er Einzelne bereits seit Jahrzehnten kennt. Nur den neuen Heimnamen kann er sich schlecht merken. Seit dem ‚friendly takeover‘ wie CEO Gerstenheimer es in seiner Antritts-Mail nannte, heisst der Sunne-Egge nämlich neu Seniovitacare GmbH. Aber daran wird Franz sich auch noch gewöhnen.

Manchmal bin ich heilfroh, dass ich schon siebzig bin.  

Ihr Albert

 

Gute neue Zeiten (2)  - Alltägliches aus Alberts Sicht

Gerade habe ich eine SMS von meinem Enkel Florian bekommen. Früher gaben ja die Grosseltern ihre Gerätschaften an die Kinder und Grosskinder weiter; heute läuft es in der Regel umgekehrt. So kommt es, dass ich seit zwei Jahren Besitzer eines völlig veralteten Handys bin. Das behauptet zumindest Florian, dem es vorher gehörte. Er wechselt seine Mobiltelefone so oft wie die Krankenversicherung, also mindestens einmal jährlich. Seit er Wirtschaft studiert, hat sich sein Konsumverhalten merklich verändert. Einerseits verbringt er Stunden am Computer auf der Suche nach den billigsten Krankenkassenprämien und andererseits gibt er Unsummen für den neusten technischen Schnickschnack aus. Falls er so etwas an der Uni lernt, bin ich nicht sicher, ob unsere künftige Wirtschafts-Elite die ökologischen und sozialen Probleme in den Griff bekommen wird. Im Moment besitzt er ein Smartphone mit dem er Filme ansehen, Filme drehen, Musik herunterladen, spielen, mathematische Formeln lösen und sogar telefonieren kann.

Bei mir zu Hause hängt noch ein altes Festnetz-Telefon an der Wand, aber ich gehöre trotzdem nicht zu denen, die sich dem technischen Fortschritt verschliessen und trage sein altes Handy brav mit mir herum. So ein Mobiltelefon vermittelt ja auch eine gewisse Sicherheit, was vor allem meine Tochter Elisabeth beruhigt. Sie meinte, dass ich damit sofort Hilfe anfordern könnte, wenn ich zum Beispiel bei einem Waldspaziergang von einem Luchs angegriffen werden sollte. Du meine Güte. Warum nicht gar von einem Problembären oder einem Rudel Wölfe, die sich in der Schweiz ja ebenfalls wieder angesiedelt haben sollen! Elisabeth hatte schon als Kind eine blühende Fantasie.

Ach ja, die SMS von Florian. Wie üblich musste ich die Nachricht laut lesen, um den Inhalt zu verstehen. Die Jungen haben dafür eine eigene Sprache entwickelt, die sich aus Schweizerdeutsch, Englisch und geheimnisvollen Abkürzungen zusammensetzt. Kreativ sind sie ja, das muss man ihnen lassen. Letzthin schrieb er am Ende des Textes yolo LG Flöru und war erstaunt, dass ich die Abkürzungen nicht kannte. Schliesslich wusste doch jeder, dass yolo you only live once oder auf Deutsch Du lebst nur einmal heisse.Gerade für meine Generation sei das doch megawichtig! Und LG bedeute ganz einfach Liebe Grüsse.

Da muss man als Siebzigjähriger erst mal drauf kommen. Diesmal schrieb er Hi Grossätti. Da ist er dann wieder konservativ. Seine Eltern nennt er zwar zeitgemäss Mom und Dad, aber der Grossvater bleibt der Grossätti. Traditionen scheinen bei den Jungen wieder hoch im Kurs zu sein, aber welche genau und warum die andern nicht, ist eines der Rätsel, das ich in meinem jetzigen Leben wohl nicht mehr lösen werde.

Jetzt bin ich schon wieder abgeschweift. Also noch einmal der Text: Hi Grossätti. Isch ok wänn ig morn mittag chume go foode? Nächhär chöimer ja no chly zäme abchille. Mues dir no ä luschtigi story verzeue vo dä uni . LG und yolo. Flöru

Er kommt morgen also zum Mittagessen. Verflixt. Wo ich doch einfach eine Tiefkühlpizza in den Ofen schieben wollte. Früher glaubte ich, dem Jungen damit eine Freude zu machen, aber weit gefehlt: Solchen ‚Junk Food‘ müsse er als Student die ganze Woche essen, klagte er, und er hätte viel lieber Kartoffeln mit Brätkügeli und Sauce und dazu einen Salat wie früher, als seine Grossmutter noch lebte.

Eine verkehrte Welt ist das: Die Jungen sehnen sich nach Sauerkraut mit Speck und Kartoffeln, und im Altersheim Sunne-Egge stehen neuerdings Gerichte wie Nasi Goreng oder Paella mit Scampi auf dem Menuplan, wie mein Nachbar Franz mir erzählte, der dort Chefgärtner ist. Die Begeisterung der Bewohner für die fremdländischen Speisen scheint sich in Grenzen zu halten und auch das neu eingeführte gesunde Körnerbrot zum Frühstück wurde nicht goutiert. Die Körner hatten nämlich die lästige Angewohnheit, wie einbetoniert zwischen den Zähnen stecken zu bleiben, und nachdem Frau Scheidegger eine Krone abgebrochen war, als sie auf ein Steinchen biss, gab es zum Frühstück wieder das allseits beliebte Ruchbrot.

Vielleicht sollte man die Betroffenen einfach selber fragen, was geändert werden soll, damit ein wenig Abwechslung in ihren Alltag kommt. Wo doch sonst in den Betrieben immer alles zehnmal evaluiert werden muss, bis man an eine Umsetzung denken kann. 

Ihr Albert

 

Alptraum in der Gondelbahn

"Das ist es", sagte mein Mann, hielt mir einen farbigen Prospekt unter die Nase und las laut daraus vor: "Der Höhenweg inmitten eines prachtvollen Bergpanoramas ist auch für Familien leicht begehbar und vermittelt einen unvergesslichen Eindruck dieser herrlichen Bergwelt."

Mir schwante Fürchterliches. "Und wie kommen wir da hoch? Doch nicht etwa mit einer Gondel?" Ich liebe Wanderungen im Herbst, aber bitte ohne Schwebebahnen. Die lösen bei mir ähnliche Panikgefühle aus wie ein Besuch beim Zahnarzt. Meine Frage war absolut überflüssig. Natürlich würden wir die Seilbahn benutzen. Oder haben Sie vielleicht eine Idee, wie man einen Achtjährigen dazu bringt, siebenhundert Höhenmeter zu Fuß zu bezwingen, wenn in regelmässigen Abständen Gondeln mit fröhlich winkenden Touristen über seinen Kopf hinwegschweben?

So warteten wir am Wochenende in der lärmigen Halle der Talstation darauf, in eine dieser gemächlich heranzuckelnden Kabinen zu steigen. Als die Reihe an uns war, kam eine gelbe. Inmitten all der roten Kabinen musste unsere natürlich gelb sein.

"Das ist ein schlechtes Zeichen", gab ich zu bedenken, während Mann und Kind bereits die beiden magenfreundlichen Plätze in Fahrtrichtung besetzten. Ich ließ nicht locker. "Wieso ist unsere Kabine gelb und alle anderen sind rot? Das ist bestimmt ein uraltes Modell, das sich beim leisesten Windhauch vom Seil ausklinkt und abstürzt!"

Da die beiden keine Anstalten machten, wieder auszusteigen, ergab ich mich seufzend in mein Schicksal. Nun saßen wir also in diesem blechgewordenen Alptraum und bewegten uns ruckelnd auf den Ausgang zu. Jetzt hätte sich eigentlich die automatische Schiebetür schließen sollen. Noch fünf, noch drei, noch zwei Meter bis zum freien Fall bei der Rampe – warum ging diese verdammte Schiebetür nicht zu? In dem Augenblick, als ich mich mit einem Hechtsprung nach draußen retten wollte, schloss sie sich doch noch und wir hingen über einer Wiese. Ich überlegte gerade, ob sich die offensichtlich kaputte Tür jemals wieder öffnen würde, als wir abstürzten. Ich krallte meine Fingernägel in den Arm meines Angetrauten und schloss die Augen, während sich die Rollen unserer Kabine mit einem grässlichen Rattern aus der Halterung lösten.

"Das war der erste Mast", kam es ungerührt aus der Ecke, in der unser Sohn saß.

Ich öffnete die Augen und machte ein paar tiefe Atemzüge, um mein stolperndes Herz zu beruhigen. Ab und zu wagte ich sogar einen Blick auf das atemberaubende Bergpanorama. Nach dem zehnten gemurmelten "Ich fühle mich wohl, es geht mir blendend, ich fühle mich …" entdeckte mein Sohn vierhundert Meter unter uns ein "echtes, lebendes!" Murmeltier und stürzte sich kopfüber auf den freien Platz neben mir, um es nicht aus den Augen zu verlieren.

Dass unsere Gondel danach noch am Seil hing, war ein mittleres Wunder. Nach weiteren fünf relativ ruhigen Minuten verlangsamte sich die Fahrt plötzlich ohne ersichtlichen Grund. Wir hielten sachte schaukelnd über einer Schlucht. Eine unter dem Seitenfenster angebrachte Informationstafel klärte uns darüber auf, dass in einem solchen Fall für die Passagiere keine Gefahr bestehe. Auf unserer Metalltafel (und ich wette, nur auf unserer), hatte ein Witzbold das Wort "keine" mit dem Taschenmesser fein säuberlich ausgekratzt und mit Filzstift "tödliche" darübergeschrieben.

Dann setzte ein feiner, aber beharrlicher Nieselregen ein. Mein Mann schlug vor, die Dachluke zu öffnen und das Regenwasser zu sammeln, damit wir wenigstens nicht verdursten müssten, falls …. Er schwieg bedeutungsvoll. Unser Sohn sinnierte unterdessen über die Möglichkeiten eines Bungee-Jumpings von der Kabine aus; natürlich erst, wenn er grösser wäre, aber dann, ja, das wäre mega cool! Als mir klar wurde, dass er es ernst meinte, beschlich mich zum ersten Mal der Verdacht, dass sich damals auf der Säuglingsstation eine tragische Verwechselung zugetragen hatte.

Wir sind dann doch noch heil oben angekommen, und den Abstieg machten wir gemeinsam zu Fuß, da mein Mann fand, dass die von mir angedrohte Trennung ein zu hoher Preis für eine harmlose Gondelfahrt sei.

Der Prospekt hatte jedenfalls nicht zu viel versprochen: Die Eindrücke dieses Tages werden mir unvergesslich bleiben.