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Roman Das Freundlichkeits-Experiment

 

1 

 

An jenem Sommernachmittag war die Luft auch in großer Höhe noch angenehm warm. Der Rotmilan zog geruhsam seine Kreise am wolkenlosen Himmel. Nach einer Weile ließ er sein Jagdrevier mit den frisch gemähten Feldern hinter sich und segelte ohne Ziel über das grüngelbe Mosaik aus Wiesen, Wäldern und Ackerflächen. Als die große Stadt vor ihm auftauchte, flog er instinktiv einen Bogen und hielt auf offeneres Gelände zu. Er ließ sich sinken und suchte das Gebiet nach Beute ab. Hinter einer Reihe von Hochhäusern erspähte er ein Beutetier, das auf einer Wiese inmitten von Menschen friedlich Gras rupfte. Es war keine Ratte, kein Maulwurf und auch keine Maus, aber von der richtigen Größe und nicht zu mager. Ohne die Beute aus den Augen zu lassen, zog er immer engere Kreise über der Wiese. 

Der Schatten seiner Schwingen blieb am Boden nicht unbemerkt. Ein Hund begann aufgeregt zu bellen, Köpfe hoben sich und Hände wurden über die Augen gelegt, um gegen die Sonne zu sehen. Nun beugte sich eine Gestalt über das Beutetier und verbarg es vor seinen Blicken.  

Sofort gab der Milan die Jagd auf und strich mit weit ausholenden Flügelschlägen ab. Die Aufwinde nutzend schraubte er sich in die blaue Weite des Himmels. 

 

*****************

 

Die Menschen auf der Wiese des Tscharnergut-Quartiers trugen luftige Kleider und Hüte, um sich vor der grellen Sonne zu schützen. Das Thermometer war bereits am Vormittag auf über dreißig Grad geklettert, und wenn nicht vorher noch ein Gewitter aufzog, würden wohl erst die Abendstunden ein wenig Abkühlung bringen. Trotz der Hitze hatten es sich die Quartierbewohner auf der Wiese gemütlich gemacht und unterhielten sich angeregt. Da und dort schliefen Säuglinge unter bunten Sonnenschirmen, ohne sich vom Tumult auf der Wiese stören zu lassen. Die älteren Kinder turnten auf den Spielgeräten herum und warfen sehnsüchtige Blicke zum Spielbrunnen, der von der Quartierjugend in Beschlag genommen worden war. Wenn sich ein wagemutiges Kind dem Beckenrand näherte, blickten sie kurz von ihren Smartphones auf und wedelten mit der Hand, als wollten sie eine lästige Fliege verscheuchen.  

Diesmal verzichteten die Eltern darauf, sich für ihre Kleinen stark zu machen. Der Brunnen lag nämlich direkt hinter dem improvisierten Rednerpodium, und Mikrofon hin oder her ‑ gegen das Gekreische im Wasserbecken hätte auch der stimmgewaltigste Redner keine Chance gehabt. Da waren ein paar gelangweilte Teenager eindeutig das kleinere Übel. 

Für die Betagten hatte der Quartierverein drei Reihen weißer Plastikstühle aufgestellt. Leider wurden diese innert Minuten von Leuten besetzt, die noch Lichtjahre vom Rentenalter entfernt waren. Nachdem sich jedoch ein paar muskelbepackte Anwohner im Trägerhemd vor ihnen aufgebaut hatten, räumten sie die Plätze murrend für die Ureinwohner des Quartiers, welche wieder einmal missbilligend den Kopf über die junge Generation schüttelten. 

Über der ganzen Siedlung hing der Duft von fremdländischen Gerichten und die Stimmung auf der Wiese war heiter und erwartungsvoll.   

Bundesrätin Antonia Steiner Lucarelli betrat das hölzerne Podium. Ihr Blick schweifte über die Menge und blieb an einer Gruppe hängen, die ein wenig verloren auf dem Kiesweg herumstand. Sie erkannte drei Parteikolleginnen und einen Journalisten und nickte ihnen freundlich zu.  

Sie wartete, bis es auf der Wiese still wurde und begrüßte dann die Anwesenden in den vier Landessprachen. 

»Heute, am ersten August, feiern wir wie jedes Jahr die Gründung der Schweiz«, fuhr sie mit ihrer dunklen, warmen Stimme fort. »Unser Land hat seither vielen Menschen eine neue Heimat geboten. Auch mein Vater Guido Lucarelli gehörte zu ihnen, als er 1957 als junger Mann nach Bern kam, um der bitteren Armut in Süditalien zu entfliehen. Ich bin hier im Tscharnergut aufgewachsen und meine Eltern wohnen heute noch im selben Block wie damals.« Sie deutete hinter sich auf eines der Hochhäuser. »Leider macht ihnen die Hitze zu schaffen, sodass sie jetzt nicht hier sein können.« 

Sie machte eine Pause und ließ den Blick über die Menge schweifen. Dabei entdeckte sie Matthias, der neben einem fremden jungen Mann auf einer Decke saß und in ihre Richtung blickte. Mit seiner dunklen Sonnenbrille und dem breitkrempigen Hut hätte sie ihn beinahe nicht erkannt. Sie nickte ihm lächelnd zu, worauf der Unbekannte zurücklächelte und leicht die Hand zum Gruß hob. Matthias musste das gesehen haben, denn er deutete diskret auf seinen Nebenmann und reckte mit einem breiten Grinsen den Daumen in die Höhe.  

Antonia wurde es warm ums Herz. Ihr Mann schaffte es auch in den schwierigsten Momenten, sie aufzuheitern. Und dies hier war einer der bittersten Momente in ihrem Leben. Sie schluckte den aufsteigenden Kloss in ihrer Kehle hinunter und fuhr mit ihrer Rede fort. Sie erwähnte, dass sie während der letzten fünfunddreißig Jahre dasselbe Ziel wie ihre Partei verfolgt habe: Eine Gesellschaft, in der Eigenverantwortung gefördert und die Tüchtigen belohnt werden. Dann skizzierte sie kurz ihren beruflichen Werdegang von der Wirtschaftsstudentin zur Bundesrätin.  

»Nun haben aber trotz großer Anstrengungen nicht alle dieselben Chancen und Voraussetzungen«, meinte sie ernst. »Auch in der reichen und wirtschaftlich stabilen Schweiz gibt es viele, die an den Rand gedrängt werden oder durch die Maschen des sozialen Netzes fallen. Auch in unserem vermeintlichen Paradies gibt es zahlreiche Menschen, die arbeitslos, alleinerziehend und von Armut bedroht sind. Menschen, die aus ihren Heimatländern fliehen mussten sowie zunehmend auch jüngere Menschen, die Mühe haben, sich in unserer Leistungsgesellschaft zu behaupten. Deswegen erscheint es mir wichtig, dass wir mit vereinten Kräften eine Kultur des gegenseitigen Respekts und der Wertschätzung füreinander schaffen, ungeachtet dessen, wer wir sind, woher wir kommen, was wir glauben oder was wir besitzen.«  

Die Leute auf der Wiese applaudierten spontan und Antonia benutzte die kurze Pause, um einen Schluck Wasser zu trinken. In diesem Augenblick glitt ein dunkler Schatten über die Wiese. Sie hob den Kopf und erschrak. Ein mächtiger Greifvogel kreiste direkt über ihr. Er flog so niedrig, dass sie seinen kühn geschwungenen Schnabel und die Zeichnung des Gefieders erkennen konnte. Es musste einer der Rotmilane sein, die sich in den letzten Jahren wieder in der Gegend angesiedelt hatten, aber sie war nicht imstande, ihn bewundernd zu betrachten, wie sie es unter normalen Umständen getan hätte. Furcht stieg in ihr auf und trotz der Hitze erschauerte sie. Der Vogel erschien ihr als Vorbote einer nicht mehr fernen Zeit, über welche sich bedrohlich dunkle Schatten legten, bis alles Helle und Schöne ausgelöscht sein würde.  

Ein Hund begann zu bellen, worauf der Milan abdrehte und mit weit ausholenden Flügelschlägen dem Himmel zustrebte.  

Antonia riss sich zusammen und trank ihr Glas leer. Als sich ihr die Gesichter wieder zuwandten, sprach sie über die Fallstricke der Leistungsgesellschaft und die negativen Auswirkungen eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums. In eindringlichem Ton fuhr sie fort: »Was nützen uns gesellschaftliches Ansehen und ein großes Auto, wenn wir uns beim Abschiednehmen eines geliebten Menschen eingestehen müssen, dass wir unsere kostbare gemeinsame Lebenszeit Dingen geopfert haben, die ohne Wert und Bestand sind? Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der wir lernen, freundlich miteinander umzugehen, wann immer es möglich ist.« Sie lächelte ins Publikum. »Und seien wir ehrlich: Es ist fast immer möglich.  

Die Leute begannen wieder zu klatschen. Sie hob die Hände und rief, dass zu einer Erst-August-Feier auch Speis und Trank, Musik und natürlich ein schönes Feuerwerk gehörten. Das alles würde den Quartierbewohnern im späteren Verlauf offeriert. Sie bedankte sich fürs Zuhören und verließ das Podium unter lautstarkem Applaus.  

Sofort löste sich ein Journalist aus der Gruppe und eilte auf sie zu. »Frau Bundesrätin. Das war eine unerwartete Rede für ein Mitglied der FDP. Kann es sein, dass Sie vorhaben, Ihre Parteizugehörigkeit zu wechseln?« 

Sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, das habe ich absolut nicht. Bitte entschuldigen Sie mich, ich muss noch jemanden treffen.«  

Sie spähte in die Richtung, in der sie ihren Mann entdeckt hatte, doch inzwischen hatten sich die meisten Leute erhoben und versperrten ihr den Blick auf die Wiese. Alles drängte zu den Verpflegungsständen.  

Es war Antonia nicht entgangen, dass die Parteikolleginnen während ihrer Rede unruhige Blicke getauscht hatten und am Ende mit erstarrter Miene und ohne zu klatschen dagestanden hatten. Da sie keine Lust hatte, ihren Fragen oder Vorwürfen begegnen zu müssen, tauchte sie in der Menschenmenge unter. Sie würde den Partei-Präsidenten noch heute Abend anrufen und ihm alles erklären. Jetzt aber wollte sie wie abgemacht zusammen mit Matthias ihre Eltern besuchen, um über die Zukunft zu sprechen. Sie schaute sich im Gehen nach ihm um, konnte ihn aber in der Menge nicht entdecken. Vielleicht hatte er ja noch Bekannte getroffen und würde ein wenig später kommen.  

Sie betrat das Hochhaus über den Fahrradkeller beim Hintereingang. Als sie die Türe öffnete, schlug ihr der vertraute Geruch von Gummireifen und Schmieröl entgegen. Automatisch suchte sie den Raum nach ihrem eigenen Fahrrad ab, obwohl es bestimmt dreißig Jahre her war, dass es hier zwischen all den anderen stand. Sie hatte es zu ihrem vierzehnten Geburtstag geschenkt bekommen – ein fabrikneues, dunkelblau lackiertes Rad mit einem beigen Ledersattel.  

Antonia war damals schon bewusst gewesen, dass dieses prächtige Rad das Familienbudget bei weitem überschritt. Um ihre Eltern nicht zu verletzen, hatte sie nichts dergleichen gesagt, sondern sich freudestrahlend bedankt. Einen Monat später hatte sie jedoch die erste von vielen Aushilfsstellen angetreten und an schulfreien Nachmittagen beim QuartiercoiffeurHaarbüschel zusammengefegt und leere Shampooflaschen aufgefüllt.

Sie trat in den Aufzug und wählte die vierzehnte Etage. Vor der Wohnung ihrer Eltern klingelte sie zweimal kurz und drückte dann die Klinke hinunter. Wie üblich war die Tür unverschlossen. Wenn sie oder die Nachbarn ihre Eltern vor Einbrechern warnten, erklärte ihr Vater stets ungerührt, dass es außer seiner carissima Elisabeta sowieso nichts Wertvolles zu stehlen gebe, und sollte es jemand wagen… Er zog dann jeweils seine buschigen Augenbrauen zusammen und drohte dem unsichtbaren Gegner mit der Faust, was seine "carissima" Elisabeta jedes Mal hellauf lachen ließ. 

 

2

 

Renato saß entspannt auf seiner Decke und betrachtete das bunte Treiben auf der Wiese. Die meisten Leute schienen sich zu kennen und unterhielten sich lebhaft in den verschiedensten Sprachen. Kinder spielten zwischen den aufgespannten Sonnenschirmen Fangen, Kühlboxen wurden auf- und zugeklappt und überall duftete es nach mitgebrachtem Essen und Sonnencreme. Die Szenerie erinnerte ihn eher an ein Openair Festival als an eine Versammlung anlässlich einer Bundesratsrede.  

»Ist hier noch ein Platz frei?«  

Ein großer, hagerer Mann stand vor ihm und sah ihn fragend an. Er stützte sich auf zwei Krücken und trug einen Strohhut mit breiter Krempe. Die tiefen Furchen in seinem Gesicht ließen ihn älter scheinen, als er wahrscheinlich war. Renato schätzte ihn auf Anfang sechzig. Er machte eine einladende Handbewegung. »Ja klar. Sie können sich auch gerne auf meine Decke setzen, falls mein Hund bereit ist, seinen Hintern zu bewegen.«  

Wie auf ein Stichwort hob der struppige Hund den Kopf und ließ ein tiefes Grollen hören. Renato versetzte ihm einen freundschaftlichen Klaps. »Ruhig, Sablun, der Mann tut dir nichts.«  

Er schob den Hund von der Decke und rückte zur Seite, um Platz neben sich zu schaffen. »Nehmen Sie es nicht persönlich. Sablun hat bloß Angst vor Ihren Gehstöcken. Bevor er ins Tierheim kam, wurde er manchmal mit einem Stock geschlagen.« 

»Das tut mir leid.« Der Mann setzte sich umständlich und legte die Krücken so weit wie möglich vom Hund entfernt auf den Rasen. Dann meinte er belustigt: »Bisher hörte ich immer Der Hund tut Ihnen nichts!, aber ich finde, Der Mann tut dir nichts! klingt irgendwie netter.« Er streckte Renato die Hand entgegen. »Ich heiße Matthias.« 

»Und ich bin Renato.« Er schüttelte Matthias die Hand. »Sablun ist übrigens das rätoromanische Wort für Sand.« Bei der Erwähnung seines Namens hob der Hund den Kopf und wedelte zustimmend.  

»Ich hatte in meiner Jugend auch einen sandigen Hund«, sagte Matthias, »einen Streuner, den ich aus den Ferien in Italien mitgebracht hatte. Er liebte es, sich am Flussufer im Sand zu wälzen. Leider ruinierte der Sand regelmäßig den Motor unseres Staubsaugers und meine Mutter war manchmal kurz davor, uns beide vor die Türe zu setzen.« Er seufzte gespielt. »Sind diese Motoren heute eigentlich robuster als früher?«  

Renato zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich hab’s nicht so mit Staubsaugen. Ein Besen reicht normalerweise auch. Ist sowieso ökologischer als ein elektrischer Staubsauger.« 

»Ein Besen. Da stehst du den Grünen politisch wahrscheinlich näher als der FDP. Darf ich dich aus purer Neugier fragen, warum du zur Erst-August- Rede einer FDP-Bundesrätin gekommen bist?«  

»Man soll sich ja auch die Argumente der Gegenseite anhören, wenn man etwas lernen will«, antwortete Renato und fügte dann grinsend hinzu: »Aber ehrlich gesagt, ist es reiner Zufall, dass ich heute Nachmittag hier bin. Ich hüte gerade die Wohnung eines Kollegen hier im Tscharni und fand gestern das Flugblatt mit der Einladung zur Erst-August-Feier im Briefkasten. Das hat mich neugierig gemacht. Schließlich ist das Tscharnergut nicht gerade die Hochburg der FDP – zu viele Arbeitslose und Sozialfälle oder Leute wie mich, die in den Tag hineinleben und es knapp schaffen, das Geld für die Hundesteuer zusammenzukratzen.« 

»Ist das dein Hund?«  Wie auf ein Stichwort stand ein kleines Mädchen vor ihnen und deutete mit dem Kinn auf Sablun. Es war barfuß, trug ein geblümtes Sommerkleid und hielt ein Meerschweinchen in den Armen.  

»Ja, der gehört zu mir«, sagte Renato und lächelte ihr freundlich zu. »Er heißt Sablun. Und wie heißt dein Meerschweinchen?«  

Das Mädchen lächelte unbefangen zurück. »Es heißt Schnüffi. Sablun klingt aber nicht wie ein Hundename.«  

Es bückte sich und setzte das Meerschweinchen vor Renato auf den Boden. Das Tier machte einen kleinen Hüpfer, drehte sich einmal um sich selbst und begann dann friedlich Gras zu rupfen. Das Mädchen setzte sich zu ihnen, riss ein Grasbüschel aus dem Rasen und hielt es dem Hund vor die Nase. Dieser schnupperte kurz daran und wich dann angewidert zurück. Die beiden Männer lachten.  

Das Mädchen zog enttäuscht die Nase kraus. »Mag Sablun kein Gras?«  

»Nein, er mag lieber Fleisch. Hunde mögen Gras nicht so gerne.« Renato blickte sich suchend um und entdeckte ein paar Meter weiter eine blonde junge Frau, die ihm zunickte und lächelnd auf das Mädchen deutete. Er nickte beruhigt zurück. Die Mutter war also in der Nähe.  

»Sind das deine Stöcke?« Diesmal war die Frage an Matthias gerichtet.  

»Ja. Die gehören mir«, sagte dieser und fügte erklärend hinzu: »Ich brauche sie zum Gehen.« 

»Warum? Hast du dir das Bein gebrochen?« Das Mädchen sah ihn aus großen Augen an.  

Matthias räusperte sich. »Nein. Nicht direkt. Aber ich habe Schmerzen im Bein, wenn ich gehe und darum brauche ich die Krücken.« 

»Schmerzen sind blöd.« Sie stand auf. »Darf ich die Stöcke mal ausprobieren?« 

Matthias lächelte. »Die sind doch viel zu groß für dich. Du kannst damit nicht gehen.« 

Das Mädchen ließ nicht locker. »Aber darf ich trotzdem mal? Nur kurz.« 

Er konnte ihrem bittenden Blick nicht widerstehen. »Also gut. Aber bring sie mir spätestens am Ende der Rede wieder zurück, versprochen?« 

»Versprochen.« Das Mädchen packte die Krücken und schleppte sie auf dem Rasen hinter sich her. Ohne zurückzublicken, rief sie: »Pass bitte auf Schnüffi auf. Ich hole ihn nachher wieder bei dir ab.« 

Matthias sah ihr überrumpelt hinterher. 

»Tausche Meerschweinchen gegen Krücken«, lachte Renato. »Das geht hier ja zu und her wie auf einem arabischen Souk!« 

In diesem Augenblick drängte sich Sablun zwischen sie und beschnupperte das Meerschweinchen. Matthias reagierte blitzschnell. Er beugte sich nach vorne, schob den Hund zur Seite und barg das Meerschweinchen in seinen Armen. Als er sich wieder aufrichtete, verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz und wurde plötzlich bleich. Er schloss die Augen und atmete schwer.  

Renato nahm ihm das Meerschweinchen behutsam aus dem Arm. »Ist es so schlimm mit dem Bein?« 

Matthias nickte mit geschlossenen Augen. 

»Tut mir furchtbar leid. Sablun hätte dem Meerschweinchen nichts getan, aber das konntest du nicht wissen.« 

»Ist schon gut. Es geht auch gleich wieder vorbei.«  

»Kann ich etwas für dich tun? Soll ich Hilfe holen?« 

Matthias öffnete die Augen. »Nein, lass nur. Die Schmerzen dauern nie lange an. Wichtig ist nur, dass ich ihre Rede höre. Gegen die Schmerzen kann man sowieso nicht mehr viel machen.«  

In seinem Blick lag eine solch hoffnungslose Trauer, dass Renato unwillkürlich seine Hand auf Matthias Schulter legte. »Das tut mir aufrichtig leid.«  

»Danke.« 

Mehr gab es dazu nicht zu sagen, und so schwiegen sie. Auch auf der Wiese wurde es plötzlich still, denn nun betrat die Bundesrätin das Rednerpodium. Matthias setzte die Sonnenbrille auf, um seine aufsteigenden Tränen zu verbergen.  

Nach den ersten Sätzen hob Renato überrascht die Augenbrauen und zog sein Smartphone aus der Tasche. Er wählte den Aufnahme-Modus und flüsterte Matthias zu, dass die Rede spannend zu werden versprach.  

Er hatte sich nicht getäuscht. Mit jedem Satz wurde deutlicher, dass diese Rede weit über die Pflichtübung einer Bundesrätin zum Nationalfeiertag hinausging. Alles, was sie sagte, widersprach dem, was Renato bisher über sie gelesen hatte. Hier sprach keine zielstrebige und kämpferische Frau, die vor ihrer politischen Karriere eine wichtige Rolle in der Schweizer Wirtschaft gespielt hatte, sondern ein verletzlicher Mensch, der nun auf neuen Wegen war.  

Er folgte gebannt ihren Worten. In einer Redepause blickte sie in seine Richtung und lächelte ihm mit einem leichten Nicken zu. Einen Moment lang glaubte er wirklich, dass er gemeint war, doch ein Blick auf Matthias Gesicht belehrte ihn eines Besseren. Matthias war ihm gleich irgendwie bekannt vorgekommen – nun wusste er weshalb. Während des Wahlkampfs um den frei werdenden Bundesratssitz hatte man ihn in den Medien ab und zu an der Seite seiner Frau gesehen. Er war ein so ganz anderer Typ als sie: groß und hager, nachlässig gekleidet und mit einer lockeren Körperhaltung, während sie kleingewachsen und mit weiblichen Rundungen ausgestattet war, die sie dank ihrer tadellosen Körperhaltung und ihrem eleganten Kleidungsstil vorteilhaft zur Geltung brachte. Und trotzdem hatte das ungleiche Paar auf den Fotos eine Harmonie ausgestrahlt, die man in dieser Intensität selten sah.  

Nun verstand er, warum ihre Rede nicht den allgemeinen Erwartungen entsprach. Sie war dabei, ihren geliebten Mann zu verlieren. Eine Welle der Sympathie für diese tapfere Frau ergriff ihn. Er lächelte freundlich zurück und hob leicht die Hand zum Gruß.  

Als später der Schatten eines Raubvogels über die Wiese glitt, unterbrach die Bundesrätin ihre Rede noch einmal. Renato sah nach oben und sein Herz machte einen freudigen Sprung. Ein ausgewachsener Rotmilan zog seine Kreise über der Festwiese. Renato verfolgte seinen Flug mit einem leisen Gefühl der Sehnsucht. Er vermisste die wilde Natur des Engadins, und der Rotmilan erschien ihm als Gruß aus der Heimat. Spontan winkte er dem Vogel zu. Dann bemerkte er, wie Matthias‘ Blick angespannt zwischen dem Greifvogel und dem friedlich grasenden Meerschweinchen hin und herging. Um zu verhindern, dass Matthias sein Bein noch einmal unkontrolliert bewegte, beugte Renato sich rasch vornüber und verbarg das Tierchen unter seinem Oberkörper. Der Milan strich daraufhin ab und flog der hellblauen Weite des Himmels zu. 

Als die Bundesrätin ihre Rede geschlossen hatte, fiel Renato in das begeisterte Klatschen der Menge ein. Er drehte sich zu Matthias, der mit gesenktem Blick dasaß. 

»Das war eine tolle Rede. Diese Frau ist erstaunlich. So etwas hätte ich von einer FDP-Vertreterin nie erwartet.« 

Matthias sah ihn nur an und nickte. Dann blickte er sich suchend um. »Wo ist bloß dieses Mädchen mit meinen Krücken geblieben?« Er lächelte verzagt. »Das war wohl doch kein so guter Tausch. Das Meerschweinchen ist ein wenig zu klein, um mich darauf zu stützen.« 

»Ich kümmere mich darum. Bleib nur sitzen.« Renato stand auf und sah sich um. Die Leute auf der Wiese hatten sich ebenfalls erhoben und strebten dem Quartierplatz zu, wo die versprochenen Erfrischungen warteten. Das kleine Mädchen war nirgends zu entdecken. Er hielt die Hand über die Augen und suchte die Menge ab. Jemand zupfte ihn von hinten am T-Shirt.  

»Hallo.«  

Renato drehte sich um. Eine hübsche junge Frau lächelte ihn strahlend an. 

»Hallo«, strahlte er zurück und erkannte erst auf den zweiten Blick, dass es sich um die Mutter des Mädchens handelte. Sie hielt die Krücken in der einen und das Kind an der anderen Hand.  

»Wir bringen die ausgeliehenen Krücken zurück und holen Schnüffi wieder ab.«  

Sie wirkte so natürlich und unbefangen wie ihre Tochter und er wandte nur ungern den Blick von ihr.  

»Matthias, du musst dich auf dem Heimweg nun doch nicht auf das Meerschweinchen stützen, deine Krücken sind wieder da!« 

Matthias blickte sichtlich erfreut hoch. »Schön. Obwohl ich finde, dass wir das Meerschweinchen behalten sollten. Schließlich haben wir es zweimal vor dem sicheren Tod bewahrt. Einmal vor deinem Hund Sablun und einmal vor diesem furchterregenden Greifvogel.«  

Er zwinkerte dem Mädchen zu, aber die Kleine tat, als hätte sie ihn nicht gehört und hob das Meerschweinchen hoch. Sie drückte ihm einen dicken Kuss auf das Köpfchen und meinte ungerührt: »Schnüffi gehört mir. Und gestorben wäre er sowieso nicht. Er hat nämlich lange Vorderzähne und kann sich ziemlich gut wehren.«  

Die Erwachsenen lachten.  

»Damit wäre das also geklärt.« Matthias griff nach seinen Stöcken und richtete sich mühsam auf. »Dann werde ich mich nun verabschieden.« 

»Warte doch einen Moment, Matthias. Vielleicht kann ich dir noch etwas zu trinken bringen, und ich wollte dich auch noch etwas fragen.« 

Die junge Frau sah unschlüssig von einem zum anderen. »Dann gehe ich mal. Vielleicht sieht man sich ja am Getränkestand oder beim Fest wieder…« Sie sah Renato hoffnungsvoll an. 

Er lächelte ihr zu. »Ja, bis später vielleicht.« 

Nachdem die beiden in der Menge verschwunden waren, rollte Renato seine Decke zusammen und nahm Sablun an die Leine.  

»Ich habe die Rede auf meinem iPhone aufgenommen und wollte dich fragen, ob ich sie in meinem Blog veröffentlichen darf.« 

»Warum fragst du das mich?«, sagte Matthias ehrlich überrascht.  

»Du bist doch mit der Bundesrätin verheiratet…« 

»Das ist richtig, aber es erstaunt mich, dass du mich erkannt hast. Bist du Online-Journalist oder so etwas?« 

»Nein.« Renato zögerte. »Ich habe mal Möbelschreiner gelernt, aber seit einiger Zeit reise ich ein wenig herum, verkaufe selbstgemachte Schnitzereien und führe einen Blog. Der Blog ist eigentlich bloß ein Sammelsurium von Menschen und Projekten, die mich beeindrucken. Die Rede deiner Frau würde dort total gut reinpassen. Sie hat auf eine sehr persönliche Art die wesentlichen Dinge für unsere Gesellschaft formuliert. Und da sie FDP-Bundesrätin ist, fände ich es super, wenn ich ihre Rede in meinen Blog aufnehmen könnte.« 

Matthias nickte. »Warum nicht. Ich mache dir einen Vorschlag. Du gibst mir den Link zu deinem Blog, Antonia schaut ihn sich an und wenn sie findet, dass ihre Rede da reinpasst, sendet sie sie dir per Mail. Einverstanden?« 

»Klar. Vielen Dank.«  

Renato schrieb den Link und seine E-Mail Adresse auf einen Zettel und reichte ihn Matthias. »Es würde mich freuen, von dir oder von euch beiden zu hören, obwohl deine Frau als Bundesrätin wahrscheinlich ziemlich beschäftigt ist.« 

Matthias nickte. »Das ist sie. Aber ich bin sicher, dass sie trotzdem in deinen Blog reinschauen wird. Ich muss jetzt leider gehen. Wir sind bei ihren Eltern verabredet. Bis bald einmal.« Er schüttelte Renato die Hand, tätschelte Sabluns Kopf und humpelte dann auf seine Krücken gestützt auf eines der Hochhäuser zu.

(Ende der Texprobe) 

 

Roman Bevor es Abend wird

1

Die Regeln der Welt waren aufgehoben. Sekunden währten ewig, Tage einen Lidschlag lang und Dunkelheit barg Licht.

Klara lag still da und wartete. Sie wusste nicht, worauf sie wartete und wo sie sich befand, aber das beunruhigte sie seltsamerweise nicht. Warme Sonnenstrahlen tauchten den dunklen Raum hinter ihren Lidern in rötliches Licht. Die Luft roch nach frischer Erde und Blumen. Es musste Frühling sein. Jemand sagte etwas zu ihr, doch sie vernahm nur dumpfe, ineinanderfließende Laute, als wäre sie unter Wasser. Sie lauschte mit geschlossenen Augen und spürte es mehr als sie es hörte, wie sich die Stille um sie herum langsam auflöste. Insekten brummten, Kinderstimmen riefen einander etwas zu, und hoch über ihr lärmten einige Spatzen. 

»Verzeihung, kann ich Ihnen helfen?«

Diesmal hörte sie die Stimme laut und deutlich. Klara öffnete die Augen und blickte in ein verschwommenes Männergesicht, das sich über sie beugte. Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte mehrmals, doch die Gesichtszüge über ihr blieben konturenlos. Ihr Blick wanderte weiter zu einem Kiesweg, der von einer niedrigen Steinmauer begrenzt wurde. Dahinter fiel das Gelände steil zur Aare ab, die ihr glitzernd grünes Band um die Berner Altstadt schlang. Nun erinnerte sie sich wieder. Sie hatte ihre Mittagspause im Rosengarten verbracht und musste dabei eingeschlafen sein.

Sie hob den Kopf und blickte um sich. Ihr Oberkörper ruhte auf einer Parkbank, Beine und Füße hingen auf den Boden. Sie musste im Sitzen eingeschlafen und dabei zur Seite auf die Bank gekippt sein. Hastig richtete sie sich auf und griff nach ihrer Ledertasche, die auf dem Boden lag.

Der Fremde war einen Schritt zurückgetreten und betrachtete sie aufmerksam. Aus dieser Distanz sah sie ihn erstaunlicherweise deutlicher als vorhin. Er war mittelgroß, kräftig gebaut und hatte ein sympathisches Gesicht mit auffallend schönen, dunkelgrünen Augen. Sein herausgewachsener Kurz-Haarschnitt und die formlose Baumwollhose ließen Klara vermuten, dass Eitelkeit nicht zu seinen hervorstechenden Charaktereigenschaften gehörte. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig, also etwa in ihrem Alter.

Er sah sie immer noch forschend an und sie erinnerte sich, dass er sie etwas gefragt hatte.

»Vielen Dank, aber es geht mir gut«, sagte sie mit belegter Stimme und räusperte sich entschlossen. »Ich muss wohl während der Mittagspause kurz eingenickt sein.«

Irritiert über den seltsamen Klang ihrer Stimme, hielt sie inne. Sie hatte heiser geklungen, nein, nicht heiser, eher brüchig oder …

Lautes Hundegebell riss sie aus ihren Gedanken. Auf der Wiese hinter ihr jagte ein hysterisch kläffender Dackel einem Eichhörnchen hinterher. Das Tierchen rettete sich schleunigst auf die nächstgelegene Tanne und schimpfte aus sicherer Höhe auf den Hund hinunter. Nun trippelte eine alte Dame hinzu und nahm den Dackel an die Leine. Dabei sprach sie beruhigend auf ihn ein, und im selben Augenblick wusste Klara, nach welchem Wort sie vorhin gesucht hatte: Ihre eigene Stimme klang alt. 

»Vielleicht sollte ich Ihnen ein Taxi rufen? Es ist ein ungewöhnlich heißer Tag für diese Jahreszeit.«

Widerstrebend sah sie den Fremden an. Warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe? Sie brauchte jetzt unbedingt Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen! »Danke, aber das ist nicht nötig.« Sie deutete mit dem Kinn auf ihr Fahrrad, das an der Parkbank lehnte. »Ich bin mit dem Rad hier und fahre damit auch wieder zur Arbeit zurück.« Dass sie sich schwach fühlte und befürchtete, einen Sonnenstich abbekommen zu haben, behielt sie vorsorglich für sich.

Er wirkte überrascht. »Mit dem Rad …«, wiederholte er, »zur Arbeit.«

»Genau. Mit dem Rad. Zur Arbeit«, erwiderte sie betont geduldig. Der Mann sah ja vielleicht nett aus, gehörte aber eindeutig nicht zu den Schnelldenkern. Er betrachtete sie einen Moment lang ratlos. »Wie Sie meinen «, sagte er schließlich. »Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Nachmittag.« Er nickte ihr freundlich zu und schlenderte davon.

Klara blickte ihm nach und strich sich gedankenverloren eine Haarsträhne hinters Ohr. Die Strähne fühlte sich ungewohnt dünn an und ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr hoch. Zögernd hob sie die Hände, um ihr Haar im Nacken zusammenzunehmen, aber anstelle ihrer dichten Locken ertasteten ihre Finger nur ein erbärmlich dünnes Haarschwänzchen. Fast hätte sie aufgeschrien, fasste sich doch noch rechtzeitig und sog laut keuchend die Luft ein. Langsam neigte sie den Kopf nach vorne und starrte auf das zarte, weißgraue Vlies, das sich vor ihrem Gesicht ausbreitete. Zitternd atmete sie wieder aus. Was war mit ihren kastanienbraunen Locken geschehen? Wie betäubt blieb sie eine Weile sitzen und senkte schließlich den Blick auf ihre Hände. Was sie sah, erschreckte sie nicht einmal mehr sonderlich. Es passte alles zusammen: Ihre plötzliche Sehschwäche, die brüchige Stimme, das weiße Haar, und nun auch noch ihre zerknitterten, von braunen Flecken übersäten Handrücken. Sie starrte auf das Geflecht aus Adern, das sie an Luftbilder vom Nildelta erinnerte.

Welch origineller Vergleich, dachte sie mechanisch, mal abgesehen davon, dass ich anscheinend nicht mehr fünfundvierzig, sondern zwischen achtzig und tot bin. Sie wunderte sich gerade über ihre gelassene Reaktion, als sie von einem plötzlichen Schwächeanfall überwältigt wurde. Sie musste sich mit beiden Händen abstützen, um nicht von der Bank zu kippen und hatte nur noch einen Gedanken: So schnell wie möglich nach Hause!

Mit zitternden Knien erhob sie sich vorsichtig und befestigte ihre Tasche auf dem Gepäckträger. Wieder wurde ihr schwindlig und sie lehnte sich gegen die Parkbank, bis der Boden unter ihren Füßen nicht mehr schwankte. Endlich wagte sie es, loszufahren. Nach wenigen Metern begann es vor ihren Augen zu flimmern und ihr Körper überzog sich mit kaltem Schweiß. Ihr wurde so übel, dass sie befürchtete, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Irgendwie brachte sie es fertig, vom Rad zu steigen, ohne hinzufallen.

»Sind Sie immer noch sicher, dass Sie keine Hilfe brauchen?«

Der Mann von vorhin stand wieder vor ihr und musterte sie mit besorgter Miene. Er musste ihr gefolgt sein und sie beobachtet haben. Klara gehörte nicht zu den Frauen, die fremde Männer wegen jeder Kleinigkeit um Hilfe bitten, aber nun schien sie sich in einer Art Alptraum zu befinden, da konnte ihr jede Hilfe recht sein.

»Sie haben recht«, lächelte sie verzagt. »Ich glaube tatsächlich, dass ich es im Augenblick nicht alleine schaffe.« Wie zur Bestätigung schwankte sie und drohte mitsamt dem Fahrrad hinzufallen. Geistesgegenwärtig griff er nach dem Lenker und sicherte das Rad, sodass Klara sich aufatmend dagegen lehnen konnte. In ihr arbeitete es fieberhaft. Wenn sie jetzt nach Hause fuhr, würde sie vielleicht nie erfahren, was sich in den letzten Stunden zugetragen hatte. Möglicherweise hatte dieser Mann ja etwas gesehen, das ihr weiterhelfen konnte.

»Hören Sie«, sagte sie entschlossen. »Wir kennen uns nicht, aber ich muss offen zu Ihnen sein, damit Sie mir helfen können. Es ist leider so, dass ich seit heute Mittag nicht mehr weiß, was mit mir geschieht.«

Sie wartete auf eine Reaktion, aber er sah sie nur aufmerksam an und schwieg.

»Haben Sie vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt, bevor Sie mich auf der Parkbank angesprochen haben?«

Er dachte kurz nach. »Etwas Ungewöhnliches? Nein, nicht dass ich wüsste. Ich spazierte durch den Park und sah Sie auf der Bank liegen. Da ich befürchtete, dass Sie bewusstlos seien und außerdem Ihre Tasche auf dem Boden lag, habe ich Sie angesprochen. Das war alles.«

Klara bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. Insgeheim hatte sie gehofft, dass er ihre Situation mit einem einzigen Satz aufklären könnte. Sie überlegte einen Augenblick. »Könnten Sie jemanden für mich anrufen?«

»Sicher.« Er zog ein Mobiltelefon aus der Hosentasche und klappte es auf.

»Es ist alles ein wenig kompliziert … Fragen Sie einfach nach Klara Imfeld. Dann sagen Sie mir rasch, wer den Anruf entgegengenommen hat, ohne dass die Person es hört. Ich werde das Gespräch übernehmen oder Ihnen ein Zeichen geben, dass Sie die Verbindung unterbrechen sollen.«

Er nickte. »Kein Problem. Ich muss aber zugeben, dass Sie mich neugierig machen. Verraten Sie mir wenigstens, wer diese Klara Imfeld ist?«

Sie sah ihn abwägend an. »Ich bin Klara Imfeld.«

Er machte ein überraschtes Gesicht, aber Klara hatte nicht vor, weitere Erklärungen abzugeben und nannte ihm ihre Nummer. Er tippte die Zahlen ein und lauschte eine Weile schweigend. Dann klappte er das Handy wieder zu und ließ es in der Tasche verschwinden. »Niemand da. Nur der Anrufbeantworter einer jungen Frau, die sich Klara Imfeld nennt. Sie bat, eine Nachricht zu hinterlassen oder sich später wieder zu melden.«

Klara fiel ein Stein vom Herzen. Es gab sie noch! Und ihr Zuhause auch! Wenn sie nur erst dort war, würde bestimmt alles wieder gut. Sie beschloss, ihm zu vertrauen. »Ich befinde mich leider in einer etwas verzwickten Lage und wäre froh, wenn ich Ihre Hilfe noch ein wenig länger beanspruchen dürfte.«

Er lächelte breit. »Da haben Sie den richtigen Mann getroffen. Ich bin sozusagen Spezialist für verzwickte Lagen. Sagen Sie mir einfach, was ich tun soll.«

Sie zögerte. »Müssen Sie denn nicht wieder zur Arbeit zurück?«

Er winkte ab. »Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen. Ich kann über meine Zeit frei verfügen – bei mir steht eine berufliche Neuorientierung an.«

Klara verkniff sich ein Lächeln. So konnte man das Arbeitslosendasein auch umschreiben. Im Grunde schien er sich in einer ähnlichen Lage wie sie zu befinden; schließlich musste auch sie sich völlig neu orientieren.

Sie dachte einen Augenblick nach. »Das Beste wäre wohl, wenn ich ein Taxi nehme.«

»Ein Taxi. Was für eine wunderbare Idee! Darauf wäre ich nie gekommen.«

Es war offensichtlich, dass er sie neckte, aber Klara ging nicht darauf ein. Sie hatte Dringenderes zu tun als zu flirten – zu flirten? Mit einem Mann Mitte vierzig! Sie musste sich wohl erst noch an ihr hohes Alter gewöhnen. Sie warf einen Blick auf den verschwommenen Fleck an ihrem Handgelenk, der vermutlich ihre Armbanduhr war, und seufzte. Blind wie ein Maulwurf und zu alt, um zu flirten. Das konnte ja noch heiter werden.

»Können Sie mir sagen, wie spät es ist? Ich habe meine Brille im Büro liegen lassen.« Von wegen. Sie hatte noch nie eine Brille getragen! Jetzt fing das mit den Notlügen bereits an.

»Es ist halb zwei. Wenn Sie erlauben, werde ich Sie nach Hause begleiten. Ihr Fahrrad können Sie am Parkeingang stehen lassen. Ich hole es später ab.«

Klara nickte ergeben. Sie musste dringend zur Toilette und befürchtete das Schlimmste, falls sie sich jetzt auf eine Diskussion einließ.

Ihr Retter, dessen Name sie immer noch nicht kannte, bestellte ein Taxi. Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte er: »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Eric Brand.«

»Sehr erfreut«, erwiderte Klara zerstreut, während sie in ihrer Tasche kramte. »Ich bin Klara Imfeld, wie Sie ja bereits wissen.« Sie überlegte, ob sie genug Bargeld bei sich hatte. Bei diesem Gedanken durchfuhr es sie heiß. Vielleicht war ihr Geld gar nicht mehr gültig! Wenn sie um die achtzig war, musste jetzt ungefähr – sie errechnete es blitzschnell – das Jahr 2047 sein. Die Schweiz war inzwischen bestimmt der EU oder einem neuen, noch größeren Zusammenschluss beigetreten und ihre Schweizer Franken waren wertlos, genauso wie ihre uralte Bankkarte. Sie musste sofort Gewissheit haben!

»Können Sie mir sagen, welches Datum wir heute haben? Ich bin leider immer noch ein wenig durcheinander.«

»Heute ist Freitag, der 4. Mai.«

»Und das Jahr?«

Er blickte sie prüfend an. »2012.«

Klara atmete erleichtert auf. Außer ihrem Körper hatte sich während der Mittagspause also nichts verändert. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie am Vormittag endlich die schriftliche Zusage eines Gönners für die Finanzierung des Trinkwasserprojekts in Burundi erhalten hatte. Sie war nach wie vor Klara Imfeld, Fundraiserin mit eigener Firma, ihre Kreditkarten waren gültig und alles Weitere würde sich finden. Vielleicht war der Spuk morgen früh ja auch bereits wieder vorbei.

                                                 

(Ende der Textprobe)