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Die gedruckten Kolumnen können Sie auch im Archiv der Wabern Post lesen:

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Leben im Quartier (12)

In der Adventszeit traf ich eine Freundin, deren Vater an Demenz erkrankt ist. Sie erzählte bedauernd, dass sich sein bester Freund zurückgezogen habe mit der Begründung, dass er ihren Vater so in Erinnerung behalten wolle, wie er vorher war. Als wäre er schon gestorben. Als hätte er keine Gefühle mehr.

Ich arbeite selber mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Am Tag zuvor sassen wir in der Gruppe am Tisch und gaben ein Bild herum, auf dem der Samichlaus mit Schmutzli und Esel in einer Waldlichtung zu sehen waren.

 "Das ist der Samichlaus", verkündete Herr G., worauf die Runde zustimmend nickte.

 Frau F. schaute mit grossen Augen auf das Bild und dann auf mich. Sie kann nicht mehr sprechen, aber ihr Blick sagte deutlich, dass sie den Schmutzli nicht mochte.

"Die haben ein Reh dabei, das die Geschenke trägt."

 "Das ist kein Reh, das ist ein Fisch."

 "Du meinst ein Hirsch."

 "Sage ich doch."

"Er bringt Mandarinli und Nüsse mit", flüsterte Frau B.

 "Hat er Ihnen früher auch Biberli mitgebracht?", fragte ich sie.

 Sie nickte schüchtern, worauf Herr K. barsch meinte: "Das ist doch alles Kinderzeugs!"

 "Ich muss Sie jetzt leider verlassen, meine Vorstandssitzung beginnt gleich", sagte Frau G. bestimmt, packte ihre Handtasche und erhob sich.

 Frau S., die bisher ruhelos im Raum hin- und hergegangen war, setzte sich auf den frei gewordenen Platz, nahm meine Hand und liess sie nicht mehr los. Herr B. beobachtete die Szene von seinem Sessel in der Ecke aus. Als ich ihm zulächelte, rief er: "Fräulein, noch ein Bier!"

Ich erklärte meiner Freundin, dass an Demenz erkrankte Menschen zwar nach und nach ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten einbüssen, nicht aber ihre Gefühle. Sie spüren genau, wer ihnen vertraut ist. Wie wir alle, brauchen und geniessen sie liebevolle Zuwendung, Wertschätzung und Sicherheit. Bei Aktivitäten und Besuchen, die sie nicht überfordern, leben sie förmlich auf.

In diesem Sinne verabschiede ich mich hiermit als Kolumnistin und wünsche Ihnen allen ein gutes neues Jahr.

  

Leben im Quartier (11) 

 An diesem Montagmorgen regnet es und ich fahre mit dem Bus zur Arbeit. An der Gurten-Haltestelle steigt ein Jugendlicher ein und setzt sich zu seinem Kollegen.

 "Gsehsch huere schlecht us, Bäschtu, hesch zviu gfeschtet?"

 Bäschtu nickt. "Sone geili Party gsi, Mann. Aber ich hett de Alk nöd söuä durenand suufe."

 Mal wieder typisch, denke ich. Kaum aus den Windeln raus, saufen sie sich ins Koma und geben danach erst noch mit ihrer Alkoholvergiftung an.

 Ich vertiefe mich wieder in mein Buch, bis das Wort Eierlikör fällt. Ich schaue den verkaterten Schüler an. Hat er wirklich Eierlikör gesagt? Seit wann trinken Siebzehnjährige Eierlikör?! Ich spitze diskret die Ohren und erfahre, dass es sich bei der "geilen Party" um ein Familienfest zum siebzigsten Geburtstag seiner Grossmutter handelte.

Begonnen hatte es ganz harmlos: Ein, zwei Bierchen zum Apéro, anschliessend Grosis Lieblingsessen - Filet im Teig mit Salatplatte - und zum Dessert eine triefende Zuger Kirschtorte (soviel zu meinen Vorurteilen über jugendliche Komatrinker).

 Beim Kaffee machte die Grossmutter dann den Fehler, ihn zu fragen, welche Pläne er für die Zeit nach der Matura habe. Als er sagte, dass er mit zwei Bandkollegen ein Jahr lang als Strassenmusiker durch Europa touren wolle, war sie geradezu begeistert, was Bäschtus Vater weniger begeisterte. Er fand, dass so ein Vagabundenleben reine Zeitverschwendung sei und curriculummässig nichts für die spätere Karriere bringe, worauf die Grossmutter spitz erwiderte, dass es Bäschtus Vater ebenfalls gut täte, mal etwas anderes zu machen, als die Karriereleiter hochzukraxeln. Schliesslich habe sie ihn nicht grossgezogen, damit er mit fünfzig per Herzinfarkt von der erwähnten Leiter gerissen werde. Diese Bemerkung fand wiederum Bäschtus Mutter nicht so toll, und als sich auch noch Onkel Arthur in den Streit einmischte, war die Stimmung gänzlich im Keller, worauf Bäschtu sich resigniert dem Eierlikör zuwandte.

"Huere geili Grosmueter", sinniert sein Kollege und Bäschtu nickt nachdrücklich.

 Ich blicke auf die beiden und freue mich jetzt schon aufs Grossmuttersein.

 

 

Leben im Quartier (10) 

Im Fernsehen wird gerade eine Serie gezeigt, in der eine Kleinstadt durch eine transparente Kuppel vom Rest der Welt abgeschnitten wird. Ha! Was für eine originelle Idee. Man stelle sich vor: Wabern unter einer ausserirdischen Käseglocke - ob das wohl gut käme? Ich setze mich mit dem Branchenbuch aufs Stubensofa und überlege, was man fürs Leben so braucht.  

Am besten fange ich bei der Geburt an. Eine Hebamme ist hier schon mal vorhanden, Muttermilch sowieso. Beim Detailhändler kann man für eine Weile noch Windeln und Babynahrung kaufen, danach tun's auch zerschnittene Betttücher und püriertes Gemüse aus dem Garten.  

Für die Bildung der Kleinen ist ebenfalls gesorgt, sofern die Kuppel nicht in der schulfreien Zeit herunterkracht und die Lehrerschaft aus Pendlern besteht. 

Zum Trinken fliesst noch viel Wasser die Aare hinunter und für die Fleischmoudis unter uns weiden auf der Gurtenwiese fette Bisons und Hochlandrinder. Gemüse und Milch liefern die wenigen verbliebenen Bauern oder die Stiftung Bächtelen. Falls uns das Heizöl ausgeht, kann man dort auch gleich noch Brennholz besorgen.  

Was die körperliche und geistige Gesundheit anbelangt, sind wir mit Arzt- und Zahnarztpraxen, Physiotherapie, Apotheken, Optiker, Akustiker, Yoga- und Fitnessstudios, Psychiater, Psychologen, Lebensberater und zwei Kirchen wohl eher überversorgt.  

Auch an praktischen Betrieben wie Schreinerei, Spenglerei, Glaserei oder Schuhmacher und Schneiderei fehlt es nicht.  

Die Villa Bernau wartet mit kulturellen Events auf, und gegen Langeweile helfen nebst Bibliothek ein Kostümverleih, ein Tauchclub, eine Hundeschule, eine Kunstgalerie, ein Nagelstudio, ein Singkreis oder die Pfadi - und natürlich der Tierpark, falls die Fleischmoudis noch den einen oder anderen Bewohner übriggelassen haben.  

Dank Pflegeheimen, Bestattungsinstitut und Friedhof sind wir auch für den letzten Lebensabschnitt gerüstet; ergo könnten wir Waberer einer solchen Kuppel ohne Weiteres die Stirn bieten. Und da sie transparent ist, müssten wir noch nicht einmal auf das Alpenpanorama verzichten!

 

 

Leben im Quartier (9) 

Heute geht es in dieser Kolumne mal nicht um Insekten oder Velowege, sondern um ein aktuelles Thema, das ganz Europa in Atem hält und uns auch als Quartierbewohner angeht: Der Zustrom verzweifelter Menschen, die in einem politisch und wirtschaftlich sicheren Land Zuflucht suchen. Die Zuwanderung ist keine politische Option, sondern eine Tatsache. Wenn im momentan leerstehenden Zieglerspital ein Asylzentrum geschaffen wird, werden auch wir Waberer häufiger in Kontakt mit den Menschen kommen, welche in der Hoffnung auf ein menschenwürdiges Dasein aus ihrem Heimatland geflüchtet sind. 

In Wabern befindet sich aber auch die Institution, welche für das Schicksal der Flüchtlinge in der Schweiz weitgehend bestimmend ist: Das Bundesamt für Migration (BFM), ehemals Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) und seit dem 1. Januar 2015 Staatssekretariat für Migration (SEM). Die noch älteren Bezeichnungen erspare ich Ihnen gerne. Apropos sparen: Mit dem Geld, das für die zwanghaft wiederkehrenden Umstrukturierungen und Umbenennungen der Bundesämter ausgegeben wird, könnte man etliche Wohnungen für Flüchtlinge finanzieren.  

Das "Ziegler" wird den Flüchtlingen keine definitive Bleibe bieten, sie werden kein Wort Berndeutsch verstehen und nicht wissen, wo sie künftig wohnen sollen. Sie leben getrennt von ihren Angehörigen, müssen sich an unsere Sitten, Speisen und unser Wetter gewöhnen und können sich all die verlockenden Konsumgüter in den Geschäften noch lange Zeit nicht leisten. 

Inzwischen arbeiten am Staatssekretariat für Migration in Wabern gegen Tausend bestens ausgebildete und gut bezahlte Menschen, welche das Glück hatten, in der Schweiz geboren zu werden. Als Mutter eines erwachsenen Sohnes will ich mir gar nicht ausmalen, wie das Leben eines jungen Mannes in Syrien, Eritrea oder auf der Flucht aussehen würde.  

Wenn wir den Flüchtlingen im Quartieralltag offen, freundlich und hilfsbereit begegnen, legen wir das Fundament für ein entspanntes Klima, in welchem sich vielversprechende Projekte und nicht zuletzt auch Freundschaften entwickeln können. 

 

 

Leben im Quartier (8) 

 Wir wohnen in einem ruhigen Quartier, was wir auch sehr schätzen. Gegen fünf Uhr morgens muss ich allerdings das Schlafzimmerfenster schliessen, weil unsere gefiederten Freunde auf dem Baum gegenüber einen Heidenspektakel veranstalten. Städtische Romantiker würden das tinnitusverdächtige "Tiritrilleriititizititschillitschi" wahrscheinlich als vielstimmiges Vogelkonzert bezeichnen, aber egal, wie man es nennt: Das Gezwitscher ist lauter als jeder Wecker und ich brauche meine acht Stunden Schlaf. 

In der Nacht ist es hingegen so still, dass ausser dem Säuseln des Windes und dem Grochzen und Keuchen eines Igelpärchens im Garten nichts zu hören ist.  

Es ist so still bei uns, dass ein Freund aus Barcelona bei seinem ersten Besuch nachts mehrmals aus dem Schlaf aufschreckte und befürchtete, plötzlich ertaubt zu sein. Wir hingegen machten in seiner Wohnung kein Auge zu, weil direkt vor seinem Fenster das pulsierende Nachtleben Barcelonas tobte. 

Tagsüber wird natürlich auch in Wabern dafür gesorgt, dass wir nicht etwa vom Summen einer Biene belästigt werden. Neben dem üblichen Verkehrslärm wird immer irgendetwas renoviert oder neu gebaut, und sollte akustisch mal gar nichts laufen, springt die Gemeinde Köniz zuverlässig mit Presslufthammer-Arbeiten wie dem Aufreissen von Strassenzügen oder Rohrverlegungen ein.  

Auch die Quartierbevölkerung bemüht sich redlich, das Rasenmähen möglichst gestaffelt zu erledigen, damit zwischen den Häusern keine peinliche Stille aufkommt. Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge schneiden sie auch ihre Hecken mit der elektrischen Schere schön der Reihe nach. Dasselbe gilt, wenn sie ihre Gartenabfälle Ästchen für Ästchen in den ohrenbetäubenden Häcksler stopfen oder die lästigen Blätter mit diesen grossartigen, 120 Dezibel starken Laubbläsern beseitigen. 

Immerhin sind in den letzten Jahren viele junge Familien zugezogen und die machen den Lärm, der mir neben Vogelgezwitscher (ab sieben Uhr morgens!), und dem Brummen von Insekten am liebsten ist: Er klingt nach einem lebendigen, fröhlichen Quartier.

 

 

Leben im Quartier (7) 

Bald ist sie wieder da, die Zeit des Aareschwimmens und des Brätelns auf der Liegewiese im Eichholz. Dann wird Wabern wie jeden Sommer im Takt der Bongotrommeln pulsieren, während der Strandweg einer Ameisenstrasse gleicht, auf der sich mit Picknicktaschen und Bierkartons beladene Menschen emsig hinauf- und hinunterbewegen. Mitte Juli vermischt sich der Klang der Bongos dann mit dem Wummern der Bassgitarren auf dem Gurten, was die sonst lautstarke Krähenkolonie im Eichholz beleidigt verstummen lässt (spätestens im November rächen sie sich dafür mit nerventötendem Dauergekrächze). 

An den vier Konzerttagen des Gurtenfestivals wird Waberns Ortsbild von jungen Leuten geprägt, welche mit Gummistiefeln an den Füssen und Einwegzelten auf dem Rücken auf den Gurten pilgern. In dieser Zeit ist es nicht wirklich gemütlich, mit Kindern, Rollatoren oder einem Einkaufswägeli in der Coop einzukaufen. Der Laden ist nämlich mit Getränkepaletten und Snackregalen vollgestellt und am Eingang wacht ein Mann von der Securitas darüber, dass nur so viele Leute hineingehen, wie herausgekommen sind (nicht zu glauben, wie viele Leute in unsere Coop passen!). 

Manche Anwohner decken sich mit Gehörschutz-Stöpseln ein, andere verdienen sich ein Zugeld mit dem Vermieten ihrer Garagenplätze, und die meisten dürfen sich die Konzerte gratis und franko von ihrem Gartensitzplatz, Balkon oder vom Bett aus anhören.  

Das Tollste am Waberer Sommer ist aber das Aareschwimmen. Was gibt es Schöneres, als nach einem langen, heissen Arbeitstag ins Eichholz zu radeln und sich dort von der Strömung flussabwärts tragen zu lassen; vorbei an staunenden Touristen, sehnsüchtig blickenden Langhaarhunden und stolzen Pelikanen. Wenn dann hinter der letzten Flussbiegung die golden leuchtende Kuppel des Bundeshauses in Sicht kommt, ist es nicht mehr weit bis zum Marzili, wo wir zähneklappernd, aber glücklich aus der Aare steigen. Bei starker Strömung empfiehlt es sich allerdings, die Badehose beim Ausstieg gut festzuhalten, da sie sonst wenig später vom Wehr beim Schwellenmätteli verschluckt wird.

 

 

Leben im Quartier (6) 

Das Telefon klingelte. "Frau Aeby", sagte meine Verlegerin, "der Drucktermin für die Programm-vorschau wurde vorverschoben. Hätten Sie vielleicht eine schöne Titelbild-Vorlage für Ihren neuen Roman? Ich bräuchte sie allerdings bis übermorgen."

Tatsächlich hatte ich seit längerem eine Idee, war im Internet aber nicht fündig geworden. Ich rief meinen Sohn an: "David, du musst dringend kommen. Ich brauche noch vor Sonnenuntergang ein Foto von dir mit Hund – das Ganze von hinten und mitten in der Natur. Den Hund besorge ich."

Letzteres war leichter gesagt als getan. Unser Quartier ist fest in Katzenhand und der einzige Hund in der Nachbarschaft weilte gerade zur Erholung am Gardasee. So radelten mein Sohn und ich zum Friedhofwäldchen, wo wir auf eine Spaziergängerin mit Dackel stiessen.

"Wie wär's mit dem?", fragte David und bremste ab.

Die Frau drehte sich um und beobachtete misstrauisch meinen bärtigen Sohn, der seinerseits ihren Dackel kritisch beäugte.

"Zu klein", sagte ich. "Der gibt nichts her. Wir brauchen einen grösseren."

"Man könnte ihn vielleicht mittels Photoshop aufplustern."

Ich schüttelte den Kopf, worauf die Frau erleichtert aufatmete. Am Waldrand entdeckten wir einen weiteren Hundehalter. Der kniehohe Mischling an seiner Seite besass zwar Hängeohren, die nicht wirklich zum Hund im Buch passten, aber notfalls konnte man die ja retuschieren. Wie sich herausstellte, wohnte der Mann in derselben Strasse wie wir. Ihm gefiel die Idee, dass sein Hund einen Buchtitel zieren sollte und wir unterhielten uns angeregt, während ich die Fotos schoss. Nicki war eine reizende und zutrauliche Hundedame, wenn auch ein wenig begriffsstutzig. Als ich David aus Angst vor verwackelten Bildern bat, stehen zu bleiben und nur so zu tun, als spazierte er mit ihr vor mir her, zeigte sie sich heillos überfordert. So leicht wird sie sich wohl nicht wieder für ein Fotoshooting hergeben.

Meine Verlegerin entschied sich dann für ein anderes Titelbild. Bleibt zu hoffen, dass Nickis Familie meinen neuen Roman "Das Berner Experiment" im kommenden Herbst trotzdem lesen wird.

 

 

Leben im Quartier (5)

Mit dem Frühling hat nun auch wieder die Fahrrad-Saison begonnen. An schönen Wochenenden flitzen die Velofahrer emsig durchs Quartier, was unseren betagten Kater zunehmend verdriesst. Er putzt sich nämlich gerne mitten auf der Strasse und unterbricht sein Tun nur wenn unbedingt nötig – im Grunde also nie. Dass er noch lebt, grenzt an ein Wunder. 

Ich bin jedenfalls froh, meinen Arbeitsweg wieder im Hellen zurücklegen zu dürfen, obwohl von Genussradeln im morgendlichen Berufsverkehr natürlich nicht die Rede sein kann: Vor drei Wochen erst wurde mein Fahrrad von einem Auto gerammt, als ich den Kreisel bei der Coop verlassen wollte. Gott sei Dank blieb der Sturz ohne gravierende Folgen. Befremdlich fand ich einzig, dass der fehlbare Lenker sich mehr um sein Auto als um meinen Zustand sorgte. 

Tatsächlich sind gemäss Medienberichten die Verkehrsverhältnisse für Radfahrer in der Schweiz noch Lichtjahre von denjenigen in Deutschland, Holland oder Dänemark entfernt, was ich nach absolut stressfreien Radtouren im Norden Europas nur bestätigen kann. Gibt es dort durchwegs breite, von der Strasse getrennte Fahrradwege mit gut sichtbaren Markierungen, verfügen wir hier mit etwas Glück über eine schmale, durch einen gelben Strich gekennzeichnete Fahrspur. Um den Schwierigkeitsgrad noch ein wenig zu erhöhen, wird der Velostreifen gerne mit Tramschienen, tiefliegenden Schachtgittern oder zur Seite gefegten Glasscherben bestückt. Im Winter verschwindet er dann unter den Schneehaufen der Räumungsfahrzeuge, was auch noch den härtesten Biker verzweifeln lässt. Immerhin haben solche Widrigkeiten auch etwas Gutes: Bin ich morgens noch müde, halte ich den Abstand zu den parkierten Autos einfach ein wenig knapper und schon bin ich hellwach - mein Gehirn reagiert darauf nämlich mit einem Adrenalinstoss, seit ich vor Jahren einmal gegen eine sich unvermittelt öffnende Fahrertür krachte. Glücklicherweise können wir bei der Verkehrsplanung ein Wörtchen mitreden, ohne dabei das Rad neu erfinden zu müssen. Wir müssen es nur tun.

 

 

Leben im Quartier (4)  

Ich halte nicht viel von Drohnen. Nein, diesmal geht es nicht um den wachsenden Bienenbestand im Quartier, sondern um eine neue Plage im elektronischen Bereich. Abgesehen von ihrem furchterregenden Einsatz in Kriegsgebieten werden Drohnen – eine Art unbemannter Helikopter im Miniformat - anscheinend rege dazu benutzt, private Fotos von Filmstars zu schiessen, Drogenpakete auf dem Luftweg über die mexikanische Grenze zu schmuggeln oder ganz Paris in Angst und Schrecken zu versetzen.

Klar, für Drohnen gibt es auch nützliche Einsatzbereiche, wie zum Beispiel bei der Kartierung von Ackerbauflächen. Allerdings kreisen über den Wiesen und Äckern der Region meist keine Geräte zur wissenschaftlichen Erkundung, sondern durch die Luft schwirrende Weihnachtsgeschenke erwachsener Männer, deren Spieltrieb erhalten geblieben ist (im Prospekt der Schweizer Firma Galaxus wird ein Drohneneinsteiger- und Kindermodell mit Zubehör wie HD-Kamera, Seifenblasmaschine, Wasserspritze oder Raketenwerfer angepriesen). Wer weiß, was da von oben her noch alles auf uns zukommt. Ich überlege mir bereits, eine Steinschleuder zu besorgen, falls sich so ein nervtötend brummendes Ding mal über unseren Garten verirren sollte. Es muss ein befriedigendes Gefühl sein, mit einer Steinzeitwaffe ein High-Tech-Gerät zu besiegen!)

Wir halten unseren Garten gerne für Nachbarn offen und machen diesen Frühsommer wahrscheinlich auch wieder beim 'Tag der offenen Gartentür' in Wabern mit. Drohnen sind uns aber nach wie vor nur in Form von männlichen Bienen willkommen. Es reicht schließlich, dass wir heute dank Programmen wie Google Streetview oder Google Earth nachsehen können, ob das Strassencafé Sunshine in Kuala Lumpur rote oder gelbe Plastikstühle hat oder ob der Häckselhaufen in unserem Garten immer noch nicht weggeräumt wurde (wird spätestens nächste Woche erledigt).

Apropos Überwachungsgeräte: Peilsender sind für die Erforschung von Tierwanderungen bestimmt nützlich, gehören aber nicht in die Smartphones überbehüteter Kinder, die in unserem Quartier frei herumstreifen und spannende Orte erkunden wollen.

 

 

 

Leben im Quartier (3) 

Am Samstagvormittag gehen wir jeweils zu Fuß einkaufen. Meistens treffen wir dabei Bekannte und halten einen kurzen Schwatz – manchmal ergeben sich aber auch neue Begegnungen. So zum Beispiel vor zwei Wochen, als eine verwirrte alte Dame mitten über den Bernau-Kreisel trippelte, ohne sich um das Hupkonzert der Autofahrer zu kümmern. Nachdem wir sie auf das sichere Trottoir geleitet hatten, stellte sich heraus, dass sie den Weg nach Hause nicht mehr fand. Ein Aufkleber mit der Adresse ihres Altersheimes auf dem Gehstock half uns glücklicherweise weiter. Es war kurz vor Mittag und sie wurde bestimmt schon vermisst. Wir hatten unsere Handys nicht dabei, aber an der Bushaltestelle stand ein Mann in der typischen Smartphone-Körperhaltung. Er war kahlköpfig, hatte die Figur eines Kranz-Schwingers und sein Gesicht war gepierct wie ein gespickter Rinderbraten – also nicht unbedingt der Typ, den man einfach mal so um sein Handy bittet. Alles nur Vorurteile! Er lächelte der alten Dame sogar aufmunternd zu, während ich im Heim anrief und mit der Pflege vereinbarte, die Bewohnerin zurückzubringen. Nach einer kurzen Wegstrecke war die alte Dame jedoch bereits erschöpft. Wer weiß, wie lange sie vorher schon ziellos herumgeirrt war. Eine Sitzgelegenheit war weit und breit nicht zu sehen, aber ein paar Schritte weiter hievte eine Frau ihre Wocheneinkäufe aus dem Auto. Diesmal zögerte ich ein wenig länger – schließlich ist ein Auto kein Smartphone - aber ich vertraute mehr denn je auf die Hilfsbereitschaft der Waberer. Zu Recht! Fünf Minuten später sass die alte Dame angegurtet auf dem Beifahrersitz und ich zwängte mich zwischen zwei Kindersitze. Mein Mann startete den Motor, worauf ohrenbetäubende Musik aus den Boxen dröhnte, welche sich aus unerfindlichen Gründen nicht mehr abschalten ließ. Trotz Schieflage und eingezogenem Kopf bekam ich mit, wie unsere alte Dame den erstaunten Passanten huldvoll zuwinkte. Sie behielt ihr zufriedenes Lächeln bei, bis sie im Heim in Richtung Speisesaal verschwunden war.

 

Ich bin jetzt schon gespannt, was wir beim nächsten Einkaufsspaziergang erleben werden!

 

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Leben im Quartier (2) 

Wir wanderten auf verschlungenen Pfaden im warmen Teneriffa, als sich ein holländisches Mitglied unserer Wandergruppe erkundigte, woher wir kämen.

"Aus der Schweiz. Wir wohnen in Bern, also eigentlich in Wabern bei Bern."

"WaBern … wie interessant! Ist es üblich in der Schweiz, dass die Aussenquartiere ähnlich heissen wie die Stadt?"

Wir klärten ihn darüber auf, dass Wabern ein Ortsteil der Gemeinde Köniz sei und nicht zu Bern gehöre, obwohl der Ort übergangslos in die Stadt Bern übergehe. Unser Quartier hingegen heisse Maygut.

"Aha". Er wirkte verwirrt. Dann hellte sich sein Gesicht auf. "Kommt nicht auch Eure neue Bundespräsidentin aus Bern?"

"Ja. Das heißt nein. Die Bundespräsidentin kommt aus Köniz wie wir, aber eigentlich wohnt sie im Spiegel, einem anderen Ort der Gemeinde."

Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf und wechselte zu einem vergleichsweise simplen Thema wie der Botanik der östlichen Zentralatlantikinseln.

Ähnlich verwirrt reagierte eine Besucherin aus Deutschland, die auf der Seftigenstrasse an Schildern mit der Aufschrift WAWRA, WABERN, WABREN, WABRON und WAVRE vorbeigefahren war. "Ihr Schweizer macht es euch auch nicht gerade einfach mit Eurer Mehrsprachigkeit", meinte sie halb respektvoll, halb mitleidig. Wir erklärten ihr, dass die Schilder an den Leuchtmasten einen historischen Hintergrund hätten und die Waberer damit die Strasse optisch aufwerten wollten.

"Warum nun wieder die Waberer und nicht die Waberner?", fragte sie. "Man sagt doch auch die Berner und nicht die Berer!"

Das war mir bisher noch gar nicht aufgefallen. "Wahrscheinlich eine kulturell bedingte Entwicklung", gab ich zu bedenken. "Ich bin jedenfalls eine Wabererin und keine Wabernerin. Das klingt zwar nicht ganz so weltläufig wie 'Ich bin eine Berlinerin', aber dafür haben wir eine tolle Sicht auf die Alpen." (Eine typische Aeby-Argumentation).

In Deutschland gibt es übrigens noch ein weiteres Wabern mit siebentausend Einwohnern. Vielleicht rufe ich dort mal an und frage, wie sie sich denn nennen…

PS: Der Titel sollte also korrekterweise "Leben im Ortsteil" heissen, aber ich darf in dieser Kolumne ja den Quartierligeist pflegen … Klingt seltsam? Wieso? Man sagt doch auch "Kantönligeist"!

 

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Leben im QuarTier (1)

In Wabern soll es ja um die siebentausend Einwohner geben. In Wahrheit sind es natürlich viel mehr! Mal abgesehen von unseren Haustieren gibt es hier auch noch eine Vielzahl von richtig wilden Tieren - oder eher: richtigen Wildtieren - wie Fuchs, Dachs, Eichhörnchen, Maus, Maulwurf, Igel, Marder, Biber sowie unsere gefiederten Freunde und das ganze Kriechzeug.

Von dieser Aufzählung hat uns bisher nur der Biber noch nicht im Garten besucht, und wenn nicht dereinst die globale Erwärmung ganz Wabern unter Wasser setzt, wird das wohl auch so bleiben. Nicht, dass ich traurig darüber wäre. Einem Freund von uns fällte so ein Biber nämlich über Nacht sein einziges Apfelbäumchen. Am anderen Morgen war davon nur noch ein säuberlich angespitzter Stumpf und eine Schleifspur Richtung Gürbe zu sehen.

Nun ja, Wildtiere sind halt nicht primär dazu da, unser Auge zu erfreuen. Obwohl man diesen Eindruck durchaus bekommen könnte, wenn man bedenkt, dass wir sie meist gefahrlos vom Sofa aus bestaunen (aber Achtung: eine harmlose Spinne wird auf dem 56-Zoll-Flachbildschirm zu einem Riesenmonster!).

Diese virtuelle Tierbeobachtung hat ja auch etwas für sich. Wer zupft schon gerne ein paar verwelkte Blüten aus seinem Gartenbeet und sieht sich plötzlich einer ausgewachsenen Ringelnatter gegenüber? (Meine Nachbarin!) Auch dass der Marder mit seiner Vorliebe für delikate Zünd- und Bremskabel nicht besonders willkommen ist, kann man gut nachvollziehen. Schließlich bewirten wir die Heerscharen von Nacktschnecken im Garten ja auch hin und wieder mal mit Körnern und Bier. Den Wildbienen (genau, das sind die, die NICHT stechen!) haben wir übrigens Waberns beachtliches Bevölkerungswachstum zu verdanken. Ihre stets ausgebuchten Hotels wurden natürlich nach dem Prinzip des verdichteten Bauens konzipiert.

Tatsache ist: Wabern beheimatet eine erfreulich bunte Vielfalt an Zwei- und Mehrbeinern. Und das macht unser Quartier unter anderem so lebenswert.

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